Glaube in Zeiten des Syrien-Krieges

Protestantische Theologie zwischen den Fronten

Generalsekretär Joseph Kassab und Direktorin Najla Kassab zu Besuch bei reformiert-info im Calvin-Zentrum © The National Evangelical Synod of Syria and Lebanon

Ein Gespräch über Theologie und Menschlichkeit in Zeiten des Krieges, über Erwählungslehre, Hoffnung und die Schönheit des Anderen - mit Joseph und Najla Kassab, Beirut.

Was macht der Krieg mit dem eigenen Glauben? Wie noch Theologie treiben, wenn die eigene Existenz bedroht ist? Das möchte ich reformierte Christen aus Syrien und dem Libanon fragen. Dabei erinnere ich mich noch gut, wie meine Großeltern erzählten: von der Angst, als ein „Christbaum“, also eine Leuchtbombe, ihr Haus markierte als Ziel für die Bombardierung. Und jenes „Gott mit uns!“ auf den Koppelschlössern der Soldaten im Ersten und im Zweiten Weltkrieg ist auch nicht vergessen.
Der Krieg in Syrien war lange Zeit weit weg, doch jetzt, mit syrischen Freunden in meinem Wohnort, ist es anders. Lese ich in der Zeitung von einem Bombardement in ihrer Heimatstadt, greife ich zum Smartphone: „Alles o.k bei euren Eltern?“

Im Calvin-Zentrum Hannover treffe ich mich mit Joseph Kassab, Pfarrer und Generalsekretär der National Evangelical Synod of Syria and Lebanon (NESSL / Evangelische Nationalsynode von Syrien und Libanon) und Najla Kassab, Direktorin der kirchlichen Bildungsabteilung in Beirut. Während einer ökumenischen „Partnerschaftsreise“ in Deutschland nehmen sie sich Zeit für ein persönliches Gespräch über den Glauben.

„Was bedeutet der Krieg für Ihren Glauben, für Ihr theologisches Denken als Christen im Libanon, in Syrien?“ - Die Antwort beginnt mit Christus: „In Christus ist unsere Geschichte eine Geschichte aus Leiden und Auferstehung.“ Der Krieg sei ein Teil des irdenen Leidensweges, aber zur gleichen Zeit sei da der Trost der Auferstehung. Im Arabischen gebe es zwei Weisen, von Hoffnung zu reden, erklärt Joseph Kassab. Die eine Art der Hoffnung bezieht sich auf das Hier und Jetzt, vertraut darauf, dass in einer konkreten Situation alles gutgehen wird. Die andere Art spricht vom Hoffen jenseits dessen, was wir vor Augen haben. Dies entspricht der christlichen Hoffnung. „Wir erwarten die Auferstehung. Das Leiden ist nicht der letzte Teil der Geschichte.“

Dann sagt Joseph Kassab etwas Gewagtes: Das spirituelle Leben sei jetzt besser. In ihrem eigenen Leid fühlen sich die Gläubigen mit Jesus verbunden: „Going through pain, people recognize Jesus‘ story.“ Ein Situation in Homs zeigt, was gemeint ist: Während des Gottesdienstes schlägt eine Bombe in der Nachbarschaft ein. Die Kirchenwände zittern. Die Gemeinde singt weiter: „Eine feste Burg ist unser Gott!“ – Hier bewähre sich, ob wir das glauben, was wir singen. Schwer, sich im beschaulichen Deutschland diesen Gottesdienst vorzustellen. Wäre die Flucht nicht eine gute Alternative?

Verletzt, aber nicht zerstört

Die christliche Gemeinschaft sei verletzt, räumen die Kassabs ein, aber nicht zerstört: „We are injured, but not destroyed.“ Der Krieg habe sie klarer erkennen lassen, dass Jesus Mensch wurde und uns in Mitmenschen begegnet, egal ob Christen, Muslime oder Atheisten. Aber die von Jesu gelebte und geforderte Menschlichkeit ist gerade im Krieg das Problem. Oft zeige sich auf grausamste Weise: „Wir können weniger sein als menschlich“. Wir können unsere Humanität verlieren. Und in Syrien geht sie weiter und weiter, die Geschichte der unvollkommenen Menschlichkeit, des gefallenen Menschen.

Die Kassabs spüren, wie irritierend es klingen mag, ausgerechnet dem Krieg eine theologische Erkenntnis, ein Mehr an Frömmigkeit abzuringen und ihm gar zuzubilligen, Anlass zu sein, „eine bessere Kirche zu werden“. Um nicht missverstanden zu werden, fügen sie sofort hinzu: „Um das ganz klar und deutlich zu sagen:  Der Krieg muss möglichst umgehend beendet werden.“

Hoffnung

Ob es überhaupt Hoffnung für ein friedliches Miteinander in Syrien, für die verschiedenen Völker und Religionen im Nahen Osten gäbe, werden die Kassabs in Deutschland gefragt. Eine Frage, die Erstaunen auslöst: „Wenn es Hoffnung gegeben hat für Europa nach zwei Weltkriegen, dann können wir doch erst recht nicht keine Hoffnung sehen für den Nahen Osten!“

Erwählung: Verantwortung übernehmen, statt Privilegien zu beanspruchen

Dass auch ihre eigene christliche Tradition einen Beitrag dazu leistet, Konflikte zu schüren, sehen die Kassabs. Die Vorstellung von einem „Stammesgott“ im Alten Testament, der sich ein Volk erwählt, gefällt ihnen nicht. Der einseitig Partei ergreifende „Stammesgott“ sei im Nahen Osten weit verbreitet, bei Juden, Christen und Muslimen. Wer sich jedoch als erwähltes Volk fühle, beginne, die eigenen Animositäten auf Gott zu übertragen. Während des Krieges im Libanon habe es das auch gegeben: Die auf einem Panzer befestigte Marienstatue und ein Kreuz als

Schlagstock gegen Mitmenschen. Auch die Protestanten müssten selbstkritisch sagen: „Wir sind immer noch nicht menschlich.“ Eine andere Seite der Erwählungslehre gebe ich zu bedenken: An die eigene Erwählung zu glauben, kann Verfolgten Trost spenden und eine Stütze sein für Flüchtlinge. So jedenfalls wirkte Calvins Erwählungslehre unter Hugenotten.

Wir müssen „Erwählung“ von Neuem für unsere Zeit interpretieren, ergänzt Najla Kassab. Das habe sie mit jüdischen Gesprächspartnern in den USA gelernt. Gott sage: „Ich habe euch erwählt, um euch mehr Verantwortung zu geben, nicht Privilegien.“ Gott braucht uns als Licht für die Nationen.

Aus der Geschichte lernen

„Wir möchten, dass Muslime aus unserer Geschichte lernen, nicht die gleichen Fehler zu machen“, betont Joseph Kassab. Im Gespräch mit Muslimen erinnert er daran, wie brutal auch Christen Menschen anderen Glaubens verfolgt haben, und verweist auf die gemeinsame Herkunft von Christen und Muslimen im Nahen Osten. Von ihren gemeinsamen Vorfahren hätten sich eben einige zu Mohammed bekannt und den neuen Glauben angenommen, während andere an ihrem Glauben festhielten.

Bereist 1948 trat die NESSL dem Ökumenischen Rat der Kirchen bei. Dieses klare Bekenntnis, Verschiedenheit zwischen Christen zu respektieren, ist zugleich ein Anstoß, auch anders Glaubende anzuerkennen und im Konzept der Koexistenz den einzigen Weg für ein friedliches Zusammenleben zu sehen. In diesem Sinne hofft die „Evangelische Synode in Syrien und dem Libanon“ auf die Errichtung eines säkularen Staates in Syrien, der Religionsfreiheit für alle gewährt.

Sich in Kriegszeiten nicht an den Kämpfen zu beteiligen. Das ist der Weg der Christen. Das bedeutet gleichzeitig, unter beiden Seiten zu leiden, den Anhängern Baschar al-Assads sowie ihren Gegnern. Zwischen zwei Feinden zu dienen sei christlich. Joseph Kassab schmunzelt: „Schließlich wurde Jesus zwischen zwei Dieben gekreuzigt.“

Zerstörung und Versöhnung

Die evangelischen Christen hoffen, dass diejenigen Sunniten, die nicht am Krieg beteiligt waren, Vertrauen zu ihnen als Neutralen haben. Die Christen aus dem Land zu vertreiben, sei nicht das Ziel des Krieges in Syrien. Das mache es ihnen leichter, als Mediatoren für Versöhnung einzutreten. Davon ist der Generalsekretär überzeugt. Versöhnend zu wirken zwischen den Fronten, das schaffen die Christen, indem sie unabhängig von Religionszugehörigkeiten Notleidende mit Lebensmitteln versorgen, medizinische Hilfe anbieten, Notstromgeneratoren besorgen und für Erwachsene ebenso wie für Kinder Bildungsangebote schaffen.

Im Vorkriegssyrien kannten Muslime, die auf dem Land lebten, meistens keine Christen, erzählt der in Syrien geborenen und jetzt in Beirut lebende Pfarrer. Da konnte es schon mal passieren, dass die Funktion eines Kollar-Hemdes nicht erkannt wurde: Ein Pfarrer auf Dienstreise wurde beim Stopp an einer Tankstelle voll Mitgefühl gefragt, ob er sich seinen Nacken verletzt habe.

In den Städten gab es christliche Viertel. In Homs beispielsweise, der größten Stadt Syriens, konnten Christen unter sich leben und mit allem Nötigen zum Leben versorgt sein. Jetzt ist das anders. Auch das christliche Viertel ist zerstört, und beim Wiederaufbau begegnen Christen und Muslime einander. „Inmitten der Zerstörung wächst die Menschlichkeit“. Das sei der beste Weg des Dialogs.

Extremismus - Fanatismus

Wer über den Krieg in Syrien spricht, kann das Thema Islamismus nicht ausblenden. Das Problem sei nicht der Islam, da sind sich die Kassabs einig. Das Problem sei der Extremismus, ob muslimisch, jüdisch oder christlich. Wie können wir das stoppen? „Wenn wir die Sprache der Extremisten sprechen, werden wir selbst eine andere ISIS“, meint Najla Kassab. Ihr Ehemann gesteht, dass er manchmal denkt: „Hätte Gott sich doch in den Herzen offenbart und nicht in Büchern.“ Das unkritische Lesen der Schrift, die Buchstabentreue ohne aktualisierende Auslegung sieht er als Grundübel des Fundamentalismus.

Die Radikalisierung der Jugend weltweit

Warum werden junge Menschen radikal? Najla Kassab versteht es nicht. Es sind gar nicht die armen, unterdrückten Jugendlichen, sondern gut ausgebildete, oft aus wohlhabendem Elternhaus kommende junge Menschen, die sich radikalisieren. Auch Jugendliche aus Europa. Und sogar Frauen. „Sie gehen zur ISIS, um sich als Sexobjekte missbrauchen zu lassen.“ Najla Kassab ist fassungslos. Da ist die Angst, der radikale Islam könne auch den Christen im Nahen Osten seine Lebensweise aufdrücken. So könne auch die Kirche nicht zu interreligiösen Ehen ermutigen. Ein Muslim habe das Recht sich noch drei weitere Frauen zu nehmen, das seien dann vornehmlich jüngere, wenn die erste in die Jahre gekommen sei.

Welcher Weg führt aus dem radikalen Denken heraus? Wir müssen mit den moderaten Muslimen zusammenarbeiten, sagen die Kassabs: „The world needs moderation.“ – Zwei Dinge tun not, wie die Übertragung des englischen Wortes „moderation“ sagt: Moderation und Mäßigung.

Die Schönheit des Islam

„Im Nahen Osten beeinflusst der Krieg immer wie, wir einander sehen; er trübt unseren Blick auf die Schönheit der Religion des Anderen“, betont Najla Kassab. Trotzdem kann sie diese Schönheit im Islam sehen: im „dialogue of life“, in der direkten Begegnung seien Muslime „very sweet“, ihre Gastfreundschaft beeindruckend, ebenso der Respekt vor den alten Menschen, ihr Sinn für Brüderlichkeit, also für familiären Zusammenhalt über die eigene Kleinfamilie hinaus, und die Demut in der Bereitschaft, sich selbst zurückzunehmen.

Damals als Kind im Libanon habe sie oft nicht gewusst, wer ihrer Mitschüler muslimisch war, wer christlich, sie hätten die gleichen Lieder gesungen und zusammengespielt. Dann kam der Krieg, und jetzt erkenne man schon an den Namen der Kinder, wer christlich sei oder muslimisch. Bei einem Besuch in den USA wurde Najla Kassab als Jüdin angesprochen. Nun ja, wir sehen halt alle „semitisch“ aus, meint sie schmunzelnd.

„Die Schönheit des Islams ist die Schönheit der Muslime“, meint Joseph Kassab. Die Muslime seien besser als eine Form des Islams, dem die Fähigkeit zur Reform fehle. Mit dieser Kritik hat er vor allem den wahhabitischen Islam im Blick, den Saudi Arabien mit Hilfe seiner Öl-Dollars auch in andere Länder exportiert habe. Aber er sieht auch Schönes in der anderen abrahamitischen Religion: Die Einfachheit. Die bilderlose Schlichtheit der Moscheen, das sei doch den Reformierten besonders nahe. Ebenso der Gehorsam gegenüber Gott allein und die fehlende Hierarchie. Der Iman in einer sunnitischen Gemeinde stehe zur Predigt aus der Gemeinde auf und spricht als einer unter Gleichen. Bei den Schiiten allerdings sei das anders. Da sei der Iman schon herausgehoben wie ein Heiliger.

Im Nachdenken geht Najla Kassab einen Schritt weiter. Sie erinnert sich daran, was ihr eine muslimische Freundin sagte: „Sogar wenn ihr demütig sein wollt, seid ihr es nicht.“ Demütig mag der Anspruch, als „Mediator“ zwischen verfeindeten Gruppen im Nahen Osten aufzutreten, nicht sein, aber er zeugt von einem erfrischend mutigen und selbstbewussten Christentum in einer Kirche mit rund 12.000 Mitgliedern und 38 Kirchen.

Am Ende des Gesprächs ist mein persönliches Fazit: Vor 2000 Jahren brach der Apostel Paulus von Damaskus auf, das Evangelium in Europa zu verkünden, jetzt ist es Zeit für uns, von Neuem zu hören, was Gutes aus Syrien kommt – und zu sehen, wie es unserer Schwester-Kirche dort geht. Darum bittet der Generalsekretär: „Show up!“


Barbara Schenck
Bilanz nach dem Besuch der Delegation der Evangelischen Kirche in Syrien und dem Libanon

Die Evangelisch-reformierte Kirche will ihre Verbindungen in den Nahen Osten intensivieren. Kirchenpräsident Martin Heimbucher sagte nach einem Besuch des Generalsekretärs der Evangelischen Kirche in Syrien und dem Libanon, Joseph Kassab:
Kirchenvertreter aus Syrien und Libanon zu Gast im Gottesdienst in Leer

Die Evangelisch-reformierten Gemeinde Leer feiert am kommenden Sonntag, 28. August, ihren Gottesdienst mit Gästen aus der Krisenregion Nahost. Die Predigt hält die libanesische Theologin Najla Kassab zum Thema Frieden. Sie ist Direktorin der Bildungsabteilung der Evangelischen Kirche in Syrien und des Libanon mit Sitz in Beirut.
„Wir wollen als Christen im Nahen Osten bleiben und dafür brauchen wir jeden Menschen“.

„Wir wünschen uns, dass die Menschen in Syrien bleiben“, sagte der Generalsekretär der Evangelischen Kirche in Syrien und im Libanon, Joseph Kassab am Sonntag in Leer. Er informierte nach dem Sonntagsgottesdienst in der Großen Kirche im Gemeindehaus über die Situation im Nahen Osten nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien.