Die Flucht nach vorn

Von den Widersprüchen eines modernen Antimodernismus

© Pixabay

Seit den Terroranschlägen vom 11. September ist religiöser Fundamentalismus ein aktuelles gesellschaftliches Thema. Diese extreme Form religiösen Denkens und Lebens gibt es auch im Christentum.

1 Der Fundamentalismus ist eine reale Gefahr
2 Ein unklarer Begriff
3 Der christliche Fundamentalismus aus der ›neuen‹ Welt
4 Fundamentalistische Tendenzen in der evangelikalen Bewegung
4.1 Das Bekenntnis der Wahrheit
4.2 Entlasteter Glaube
5 Fundamentalismus ist Klerikalismus von unten
6 Das nicht-fundamentalistische ›Fundament‹ des Glaubens

1 Der Fundamentalismus ist eine reale Gefahr

Beinahe jeden Tag erreichen uns Nachrichten über geplante oder vollzogene Terroranschläge, deren Drahtzieher – zum Teil ganz im wörtlichen Sinne – fundamentalistische Extremisten genannt werden. Auch wenn zur Zeit dem Islam in dieser Hinsicht eine zweifelhafte Führungsrolle zugefallen ist, beschränkt sich der fundamentalistische Extremismus keineswegs auf diese Religionsfamilie. Vielmehr läßt er sich mehr oder weniger latent in allen Religionsfamilien finden. Beispiele für Gewalttaten, die im Namen Gottes oder des Glaubens geradezu zelebriert werden, lassen sich aus allen Religionen anführen.

Das ist zudem kein neues Phänomen, sondern es begleitet die Religionen durch ihre ganze Geschichte, auch wenn noch zu prüfen sein wird, ob alles, was mit dem Begriff des Fundamentalismus tituliert wird, tatsächlich als Fundamentalismus zu bezeichnen ist. Neu ist allerdings, daß der Fundamentalismus in seinen aggressiven und noch mehr in seinen weniger aggressiven Spielarten zur Zeit überall auf fruchtbaren Boden fällt, so daß er sich mit atemberaubenden Zuwachsraten immer selbstbewußter in Pose setzt. Der Fundamentalismus ist auf dem direkten Wege, zu einer einflußreichen und durchaus gefahrvollen Größe zu werden.

In den unterschiedlichsten Zusammenhängen wird ein Fundamentalismusverdacht ausgesprochen, so daß sich die Frage erhebt, worin das Spezifische des Fundamentalismus zu suchen ist. Das Wort ›Fundamen­ta­lis­mus‹ wird heute freimütig jeder radikalen oder auch nur unliebsamen Position angehängt, so daß es im Grunde außer einem Hinweis auf eine näher zu benennende Entschiedenheit keine spezifische Kontur zu haben scheint[1].

Damit verliert der Begriff auf die Dauer seine kritische Potenz, so daß ich im folgenden dafür plädiere, die Bezeichnung ›Fundamentalismus‹ auf ein spezi­fi­sches neuzeitliches Phänomen zu beschränken, das sich vor allem in den Wohlstandsgesellschaften unserer Erde entwickelt hat. Es ist ein spezifisches Krisenphänomen, das sich als Rettungskonzept präsentiert. Doch bevor ich mich dem Problem der Begriffsbestimmung zuwende – es bleibt auch nach einer näheren Bestimmung ein recht schillernder Begriff –, frage ich zunächst nach den Gründen für die aktuelle Dramatisierung. Diese Gründe werfen bereits ein spezifisches Licht auf das hier ins Auge gefaßte Verständnis.

Nur einige wenige Aspekte sollen genannt werden: Viele der überkommenen Verläßlichkeiten und Orientierungen haben (vor allem in den hochindustrialisierten Gesellschaften) ihre Überzeugungskraft verloren, ohne daß neue an ihre Stelle getreten sind. Schon der Blick in die nähere Zukunft ist alles andere als klar. Dem exzessiven Konsumfetischismus hat sich die ständig wachsende Arbeitslosigkeit gleichsam als ungeliebte Schwester unabschüttelbar an die Fersen geheftet und begleitet ihn wie ein länger werdender Schatten. Alle längerfristigen Lebensplanungen erweisen sich als fragil, und mehr und mehr bestimmt individueller Opportunismus die kaum zu prognostizierenden Momententscheidungen, die sich durch Zufall auf den vernebelten Lebenswegen plötzlich anbieten.

Es liegt bei aller Betriebsamkeit eine gern überhörte und vielleicht noch mehr weggeredete bedrängende Ahnung von Zerbrechlichkeit und Unzuverlässigkeit der allgemeinen gegenwärtigen Lebensbedingungen in der Luft. Im Grunde fühlen es alle: Es muß zu grundlegenden Änderungen kommen. Aber diese weithin recht diffuse Ahnung begleitet ein Leben, in dem faktisch alles so weiter geht wie bisher – wenn man einmal von den kleinen selbstverordneten Trostpflästerchen absieht, mit denen wir gleichsam die jeweils nervösesten Stellen provisorisch versorgen. Wir sprechen dann gerne von ›entsorgen‹, doch vorrangig geht es darum, unseren Sorgen ein Ende zu bereiten, denn mit ihnen ist auf die Dauer schwer zu leben. Ganz unversehrt ist niemand mehr – wir alle haben unsere Verletzungen und Wunden, und wir alle haben unsere Wundverbände, Schmerztabletten, Nackenstützen und Gehhilfen, um möglichst schmerzlos wenigstens noch einige Meter weiterzukommen.

Auch die Sicherheitspolster des Wohlstands, die Vorratskammern der abwartenden Ruhe und die Hoffnungsreserven der unausgeschöpften Möglichkeiten sind empfindlich geschrumpft. Das Angebot an klaren Lösungen oder realutopischen Motivationen erscheint – soweit es nicht ganz verschwunden ist – eher verdächtig als mobilisierend. Die meisten ›Wunderheiler‹ sind durchschaut und manche große Wirklichkeitsidee hat sich als Lebenslüge herausgestellt. Realität und Maske lassen sich immer schwerer voneinander unterscheiden.

Das gilt auch für den persönlichen Bereich: Die allseitige Suche nach Identität versucht – mit nur wenig überzeugendem Erfolg – die Brechungen zu integrieren, durch welche sie überhaupt erst angeregt wurde. Wenn heute etwa die Rede von der Ganzheitlichkeit des Menschen in aller Munde ist, so doch vor allem deshalb, weil sie ein höchst seltenes, wenn nicht gar ein verlorenes Gut geworden ist, das sich nun allerdings auch kaum einfach synthetisch herstellen lassen wird. Der sich selbst beschleunigende Zerfall bisher verläßlicher Lebensverhältnisse und Lebensentwürfe betrifft mit recht unterschiedlichen Akzenten weite Teile unserer Erde.

Gewiß mag es Bereiche geben, in denen die Krise dadurch entsteht, daß sie beschworen wird, doch unsere Lähmung scheint mir mehr in der allgemein verordneten und eben auch eingehaltenen Schweigepflicht zu liegen, die in ihrem Abwarten den spürbaren Geruch der schleichenden Selbstzerstörung nicht aus der Luft zu zerstreuen vermag. Die rasant zunehmende Modernisierungsgeschwindigkeit der gesellschaftlichen Bedingungsgefüge hinterläßt vor allem eine einschüchternde Unübersichtlichkeit und eine tiefgreifende Verunsicherung. Sehr verschiedene und kaum noch selbstbewußt vorgetragene Reformvorstellungen stehen miteinander in Konkurrenz und blockieren sich gegenseitig.

Eine Reaktion auf diesen noch und noch kommentierten diffusen Stillstand in unserem Weltdorf ist der Zynismus des platten Genusses im »Grandhotel Abgrund« – garniert mit einigen postmodernen Gedankenblitzen für die sich anspruchsvoll Wähnenden. Intellektuelle Krisenszenarien werden ausgebreitet und nicht ohne voyeuristischen Genuß konsumiert mit eisgekühlten Drinks auf sicher erscheinenden Balkons direkt neben dem bereits funkensprühenden Vesuv[2]. Zwar wird nicht der Kopf in den Sand gesteckt, aber er scheint inzwischen umgekehrt das einzige zu sein, was gerade noch aus dem Sand herausschaut.

Eine ganz andere Reaktion auf die Unübersichtlichkeit und Orientierungslosigkeit unserer gegenwärtigen Situation scheint mir der Fundamentalismus zu sein. Genau das, was fraglich geworden ist, bietet er mit größter Gewißheit an – alles Angekränkelte verspricht er zu heilen. Mit seinen klar umrissenen Orientierungen, mit ›falsch‹ und ›richtig‹, mit ›gut‹ und ›böse‹, mit seiner umweglosen Berufung auf den Willen Gottes präsentiert der Fundamentalismus eine Lebensperspektive, die auf einem verläßlichen Grund zu stehen verspricht und die einen klaren Blick – hier kann man wohl von Durchblick sprechen – für die verwickelten Verhältnisse verheißt.

Dabei bleibt der Fundamentalismus nicht bei der Weltbetrachtung stehen, sondern er liefert gleichsam ein abgerundetes Lebenskonzept mit praktischen Entscheidungsoptionen, deren Befolgung eine Lebenserfüllung verspricht, um die wir in unserer allgemeinen Orientierungslosigkeit betrogen werden. Lebenserfüllung und Heilsgewißheit werden stets in unmittelbarer Tuchfühlung mit praktischen Realisierungs- und Bestätigungs-, um nicht zu sagen Verifikationsformen gehalten.

Die Orientierungsoptionen zielen auf möglichst klare und eindeutige lebenspraktische Entscheidungen, durch deren Vollzug man sich gleichsam immer wieder darüber vergewissern kann, auf dem rechten Weg zu sein. Es handelt sich um ein ganzheitliches Konzept einer sich selbst immunisierenden Selbstvergewisserung, das jeden Zweifel zu vertreiben versucht. Zweifel ist die Signatur von Glaubensschwäche und der zerstörerische Keim aller Selbsterlösungswege, deren emanzipatorischer Relativismus als die Wurzel der verheerenden Orientierungslosigkeit der Gegenwart ausgegeben wird[3].

Auch im Fundamentalismus wird von der Krise geredet, nicht selten in den dramatischsten Szenarien. Aber diese Krise und die von ihr ausgehenden Gefahren betreffen stets die anderen. Sie ereignen sich gleichsam immer nur im Umkreis der Inseln dieser rechtgläubigen Menschen, die sich unter den besonderen Schutz Gottes gestellt fühlen. Gewiß schlagen die Wellen um diese Inseln herum recht hoch, aber wenn die Dämme zur Abwehr der Flut stabil genug sind, bleibt man auf der Insel sicher.

Die Krise ist im Fundamentalismus nicht in erster Linie Gegenstand des Nachdenkens, sondern Herausforderung zu Konfrontation und Kampf, um nicht in ihren zerstörerischen Sog gezogen zu werden. Die innere Selbstgewißheit wird praktisch verteidigt in einem nach außen gerichteten Kampf gegen alle Ansprüche, die das eigene Sicherheitskonzept in Frage stellen könnten. Und so kommt es zu dem kennzeichnenden Phänomen, daß auf der einen Seite peinlich genau auf eine Unterscheidung von der bösen Welt geachtet wird, während auf der anderen Seite die als nützlich empfundenen gegebenen Verhältnisse mit allen Kräften verteidigt werden.

Der gesellschaftliche Status quo soll im Grunde nicht angetastet werden, und dafür läßt man – wenn es sein muß – Gott auch kräftig die Glocken des Patriotismus oder Nationalismus, aber auch des Chauvinismus, Rassismus oder Militarismus läuten, um ja nicht genötigt zu werden, irgendwelche Privilegien aufgeben zu müssen. Der nach außen gerichtete Kampf wird in der Regel exakt mit den Mitteln geführt, die in der allgemeinen Diskussion als Ursachen für die sich ausbreitende Krise benannt werden. D.h. der Fundamentalismus tritt – zumindest in seinen christlichen Spielarten – allen Propheten eines Kurswechsels entschieden entgegen und propagiert das Heil der Menschheit in der Rückgewinnung und Wiederbelebung all der als bewährt ausgegebenen Verläßlichkeiten individueller Lebensführung, die auch der modernen Welt zu Glück und Hoffnung verhelfen können, wenn sie als Gottes Wille befolgt werden. Im übrigen ist dieser Erde keine Ewigkeit verheißen, sondern es ist ihr von Gott beschieden, daß sie irgendwann untergehen wird, was aber den ›gläubigen‹ Menschen nichts anhaben wird. Dieser Untergang kann von niemandem aufgehalten werden, und so soll sich der Mensch ihm auch nicht entgegenstellen.

Der Anschein, daß der Fundamentalismus von einer eng abgezirkelten und eher traditionell orientierten Dogmatik geprägt sei, ist durchaus trügerisch. Es liegt kein orthodoxes, in sich stimmiges Gesamtkonzept zugrunde, sondern es läßt sich ein kaum faßbarer, weil zwischen weltanschaulichen und pragmatischen Elementen oszillierender Funktionalisierungprozess feststellen, der von dem Drang nach unablässiger Selbstvergewisserung des eigenen Heils gesteuert wird. Die Botschaft lautet: »Es ist machbar, Herr Nachbar!« Im Grunde geht es auch hier um die Befriedigung eines spezifischen Genußbedürfnisses, und zwar des Bedürfnisses, sein Heil real genießen zu können. Bei genauerem Hinsehen stellt sich der Unterschied zum Zuschauerzynismus im »Grandhotel Abgrund« unter dem Strich als ein höchst relativer dar.

Der Genuß der Gewißheit und des Heils ist freilich nicht ganz kostenlos zu haben, aber angesichts der so immens gestiegenen Kosten, die man in der allgemeinen Orientierungslosigkeit auf sich zukommen sieht, scheint die hier erwartete Investition profitabel, zumal mit dem Einzahlen bereits unmittelbar die Verheißung einhergeht, einen konkreten Gewinn zurückzuerhalten, was für den nüchternen Rechner und den verunsicherten Lebensplaner ja nicht ohne Attraktion ist.

Die dynamische Resonanz, auf die der Fundamentalismus gegenwärtig stößt, ist für mich ein Zeichen dafür, daß die allgemeine Verunsicherung nun tatsächlich um sich greift[4]. Wenn die Verhältnisse unübersichtlich werden und das Gefälle ihrer Entwicklung in eine negative Dynamik gerät, entsteht unversehens ein Bedarf an Sündenböcken und selbstgerechten und fraglos erscheinenden Rettungsinseln, und für beides bietet sich der Fundamentalismus relativ preiswert an.

Er kann jedoch darüber hinaus schnell zu einem Nährboden für den Bazillus der Gewalt werden. Je unabweislicher die Krisenphänomene in Erscheinung treten, um so leichter verbindet sich der fundamentalistische Durchblick durch die Verhältnisse mit entschlossenen Handlungsmotiven, die sich je nach Grad der Verzweiflung auch aggressiven extremistischen Optionen öffnen können. Es bereitet dem Fundamentalismus keine Mühe, die Übeltäter und Verderber – möglichst gleich für alle Übel in der Welt – auszumachen. Ist man erst ausreichend gewiß, bei seinem Einspruch und dann eben auch in seinem Tun den Willen Gottes auf seiner Seite zu haben – wie auch immer diese Gewißheit zustande gekommen sein mag –, so sind selbst rigoristische Lösungen keineswegs mehr tabu. Die Hemmschwelle wird ein weiteres Mal herabgesetzt, wenn es drastisch genug gelingt zu zeigen, wie sehr doch die gottlose Welt mit ihrem Treiben in schamloser Weise Gott beleidige.

Damit deutet sich an, daß auch die Gewaltbereitschaft im Grunde kein Unfall eines an sich harmloseren Glaubens ist, der gegen die allgemeinen Zerfallserscheinungen die unverrückbaren Fundamente herausstreicht, sondern er ist m.E. die durchaus stimmige Konsequenz einer Weltanschauung, in der sich der Mensch die Perspektive Gottes anmaßt, um sie dann auch sogleich auf dieser Welt zu realisieren[5].

Alle Diskussionen über die kompliziert gewordenen Verantwortungsprobleme werden kurzerhand abgeschnitten mit dem Hin­weis auf den Willen Gottes. Gott hat den Überblick; er allein sieht die wahren Zusammenhänge und ist im übrigen auch unschwer in der Lage, verfahrene Situationen wieder ins Lot zu bringen. Auf diese Weise wird Gott das Verantwortungsproblem zugeschoben – allein bei ihm ist es in guten Händen –, und uns teilt er lediglich seinen jeweiligen konkreten Willen mit. D.h. es wird so getan, als sei Gottes Wille in allen Lebenssituationen klar und offenbar – Gott gibt Antwort auf alle Fragen und dies sofort –, und als seien die Menschen dazu berufen, nun auf der Erde diesen deutlich mitgeteilten Willen durchzusetzen.

Erst wenn der Mensch nicht mehr auf die gefährlichen Möglichkeiten seiner Freiheit setzt, in der er die abgründige Krise der Gegenwart produziert hat, sondern sich ganz und gar in den Gehorsam zum Willen Gottes stellt, kann sich die Hoffnung für diese Welt wieder lichten. Es findet hier eine merkwürdige Verdrehung von Zuständigkeiten statt, in der Gott und Mensch – zumindest partiell – die Plätze tauschen. Da, wo die immer komplizierter werdenden Probleme menschlicher Verantwortung angesprochen werden, wird jede Diskussion mit dem apodiktischen Hinweis auf den vermeintlich klaren Willen Gottes abgewiesen, und dort, wo allein Gott zu handeln sich vorbehalten hat, spielen sich nun die (von Gott erwählten) Menschen zu Richtern und Gerichtsvollstreckern auf, so als seien sie in besonderer Weise dazu autorisiert.

Daß der vermeintliche klare Wille Gottes dann ›zufällig‹ immer gerade mit den weltanschaulichen Perspektiven und Interessen der meist gesellschaftlich wohlsituierten Fundamentalisten zusammenfällt, macht niemanden stutzig. Hier zeigt sich vielmehr der logische und methodische Mechanismus, mit dem der Fundamentalismus seine Selbststabilisierungen inszeniert. Auch wenn streng der Anschein gewahrt bleibt, als agiere der Mensch als ein treuer – eben der einzig noch treue – Knecht Gottes, ist Gott in diesem Konzept faktisch zum Knecht eines rigoristischen Lebensentwurfs geworden, mit dem man die lähmenden Abwägungsprobleme und Verantwortungsfragen in der so kompliziert gewordenen Welt abzuschütteln versucht.

In einer Art präventivem Selbstbefreiungsversuch erhebt man sich aus den komplizierten und multivalenten Entscheidungssituationen wie der Phoenix aus der Asche. Auf allen Ebenen ist die usurpierte Gewißheit von einer alle demokratischen Entscheidungsprozesse überspringenden Entschlossenheit geprägt, weder jetzt noch am Ende zu den Verlierern zu gehören. Hier scheint mir die Pointe des ganzen Selbstsicherungskonzepts zu liegen[6].

Deshalb wird in dem Entscheidungsnotstand nicht abgewartet, sondern die Initiative ergriffen, um noch rechtzeitig die Weichen so zu stellen, daß die eigenen Wagen nicht auf irgendeinem Abstellgleis enden, sondern möglichst unversehrt das gelobte Land erreichen, was immer unter diesem gelobten Land verstanden werden mag. Der Rigorismus impliziert in seiner Neigung zur Selbstjustiz einen religiös verbrämten Totalitarismus, der keine Rücksicht nimmt auf die gesellschaftliche Kontrolle über die zu fällenden Entscheidungen. Es gibt einen prinzipiellen Vorbehalt gegenüber der modernen säkularen Demokratie, da ihr einerseits die Hauptschuld an dem gegenwärtigen gesellschaftlichen Zerfall zugeschoben und andererseits die Fähigkeit für eine stabilisierende Intervention abgesprochen wird.

Der durch die vermeintliche Kenntnis des stets eindeutigen Willens Gottes von den irdischen Verantwortungsproblemen entlastete Mensch, der sich aber als unmittelbares Instrument des Kampfes Gottes auf dieser Erde fühlt, befindet sich in einem geistigen Klima, in dem schließlich jede Schandtat denkbar wird, solange sie in dem richtigen religiösen Jargon vorgetragen wird. Es werden Mentalitäten genährt, die potentiell zu allem in der Lage sind.

Um der Sicherheit des eigenen Heils willen begeben sich die Menschen in ein autoritäres Abhängigkeitsverhältnis, in dem ihnen alle Probleme abgenommen werden, die ihnen sonst als freien Menschen nahe kämen und u.U. in Verlegenheit brächten. Indem der Fundamentalismus den Menschen durch die Suggestion klarer Orientierungen alle Abwägungsprobleme abnimmt und sie damit im Grunde von ihrer Selbstkontrolle entbindet, schlummert in ihm stets ein leicht entfesselbares Aggressionspotential, von dem eine reale Gefahr ausgeht.

Der fundamentalistische Terrorismus im Bereich des Islam erscheint in dieser Perspektive nicht in erster Linie als eine extreme Perversion irregeleiteter Sturköpfe, sondern er demonstriert vor allem die auf Totalitarismus und Faschismus zulaufenden Abgründe, die potentiell in jedem Fundamentalismus seinem Wesen nach stecken.

Weiter >>>


Vgl. zum ganzen meine Vorstudie: Die demütigen Sieger. Fundamentalistische und evangelikale Bibelauslegung, in: Einwürfe 6: Die Bibel gehört nicht uns, hg. v. Fr.-W. Marquardt u.a., München 1990, 48-93.

Die Querverweise auf Literaturangaben in Anmerkungen beziehen sich auf die Zählung im PDF-Dokument.

[1]    Der Vorwurf des Fundamentalismus ist »mindestens ebenso beliebt wie beliebig«; O. Kallscheuer, Ökumene welcher Moderne? Fünf Nachfragen zur Marschrichtung im antifundamentalistischen Kampf, in: Th. Meyer (Hg.), Fundamentalismus in der modernen Welt, Frankfurt 1989, 62-80, 71.

[2]    »Wir gleichen alle der pompejanischen Hausfrau auf einer Zeichnung des italienischen Karikaturisten G. Novello, die am Vormittag vor dem Vesuvausbruch ihre Mägde zum gründlichen Abstauben ihrer Nippessachen antreibt. ... Das alles bewegt sich tief unter dem Niveau der Stunde ...« H. Gollwitzer, Befreiung zur Solidarität. Einführung in die Evangelische Theologie, München 1978, 223.

[3]    »Nirgends ein Schlupfloch für Zweifel. Der Zweifel ist der Verrat.« Th. Meyer, Fundamentalismus. Aufstand gegen die Moderne, Reinbeck 1989, 162.

[4]    »Wenn der Fundamentalismus zu einer globalen ›Epidemie‹ geworden ist, dann deshalb, weil alle Kulturen der Erde in einen präzedenzlosen Übergang hineingerissen worden sind. Das hängt vor allem damit zusammen, daß die Menschheit sich mit präzedenzlosen Gefahren beschäftigen muß, die sie zwar selbst hervorgerufen hat, deren Reichweite und Interdependenz sie aber weder abzuschätzen noch zu kontrollieren weiß. Es ist überall mit Händen zu greifen, daß die Menschheit sich daher in amorphen Ängsten und elementarer Verunsicherung befindet.« G. Müller-Fahrenholz, Wenn die Seele den Halt verliert ... Fundamentalismus als Verlust von Lebenssinn, JbM 27 (1995), 19-30, 21f.

[5]    Th. Ahrens sieht in der für den Fundamentalismus wesenhaften Militanz eine genuine Affinität zum Faschismus; unveröffentlichtes Vortragsmanuskript: Fundamentalismus und Enthusiasmus, 2.

[6]    Wenn in diesem Zusammenhang überhaupt von einer Theologie gesprochen werden kann, handelt es sich um eine politische Theologie, in der die theologischen Argumente den politischen Optionen nachgeordnet sind. Mit seinen politischen Optionen mischt sich der Fundamentalismus durchaus massiv in die Tagespolitik ein. Welche Dimensionen die meist apokalyptische Orientierung in realpolitischen Zusammenhängen entwickeln können, zeigen die zugespitzten Analysen von M. Scherer-Emunds, Die letzte Schlacht um Gottes Reich. Politische Heilsstrategien amerikanischer Fundamentalisten, Münster 1989.


Michael Weinrich