Umkehr - Dialog - Erneuerung

Die Evangelisch-reformierte Kirche und ihr Verhältnis zum Judentum

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Eine Bestandsaufnahme in Thesen, 40 Jahre nach dem Auricher Landeskirchentag, von Martin Heimbucher

A Was wir in den letzten 40 Jahren als Evangelisch-reformierte Kirche gelernt haben

1. Der „Holocaust“, die „Shoah“, nämlich: der von den Nationalsozialisten organisierte Völkermord an den europäischen Juden, fordert von der Kirche nicht nur eine politische, sondern auch eine theologische Umkehr: die Erneuerung ihres Verhältnisses zum Judentum. Diese Umkehr und Erneuerung ist ein unabgeschlossener Prozess, den jede Generation von Christen eigenständig vollziehen muss, wenn es nicht zum Stillstand oder gar zu gefährlichen Rückschritten kommen soll.

2. Mit der Jubiläums-Synode der Evangelisch-reformierten Kirche zu ihrem 100jährigen Bestehen im April 1982 in Aurich begann die systematische Auseinandersetzung mit dem Thema „Wir und die Juden – Israel und die Kirche" in unserer Landeskirche und im Reformierten Bund. Unter dem gleichen Titel verabschiedete – nach achtjähriger Arbeit eines Ausschusses unter Beteiligung jüdischer Gesprächspartner – der Reformierte Bund 1990 „Leitsätze in der Begegnung von Juden und Christen“. Ausgangspunkt der Arbeit waren fünf Thesen, die Hans-Joachim Kraus (1982 – 1990 Moderator des Reformierten Bundes) in Aurich vorgelegt hatte.

3. Ausgerechnet ein Kirchenjubiläum als Anlass zur Selbstprüfung und Umkehr zu nutzen, entspricht einem Grundanliegen der Bibel Alten und Neuen Testaments, das auch die Reformation aufgenommen hat: Im Licht Gottes finden Einzelne wie Gemeinden nur dann zu sich, wenn sie im Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit zu ihrer Schuld stehen und Vergebung und Neubeginn suchen. Mit dieser Besinnung und der ihr entsprechenden Praxis hat die Kirche ihren Teil an der „Erinnerungsverantwortung“ (Martin Aust) in unserer Gesellschaft.

4. Die Evangelisch-reformierte Kirche hat 1988 als erste Landeskirche in der EKD als Verfassungsgrundsatz festgehalten: „Gott hat Israel zu seinem Volk erwählt und nie verworfen.“ (§ 1 (2) KV) Damit hat sie die Erneuerung des Verhältnisses zwischen Juden und Christen als wesentlich für ihr Sein und Handeln als Kirche erklärt und rechtlich verankert. Der Gesamtsynode und den Synodalverbänden wird dabei die Aufgabe zugeschrieben, „das Gespräch mit Juden zu suchen und die Solidarität mit der jüdischen Gemeinschaft zu fördern und dem Antijudaismus zu widersprechen“ (§ 69 KV).

5. Die Gesamtsynode hat 1992 die verfassungsmäßige Selbstverpflichtung zur „Begegnung und Versöhnung mit dem Volk Israel“ auch in politischer Hinsicht ausgelegt, nämlich als Verpflichtung, „für eine gesicherte Existenz und den Schutz des Staates Israel“ und für den Friedenprozess im Nahen Osten einzutreten. Entsetzt über den Hass und die verbale und tätliche Gewalt, die sich im Jahr 1992 in beiden Teilen des vereinigten Deutschlands gegen jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger äußerten, stellte die Synode auch fest, dass antisemitische Parolen und Zerstörungen „dem christlichen Glauben zutiefst widersprechen.“ Sie verpflichtete sich dazu, „sich mit allen Formen des Antijudaismus in der Kirche kritisch auseinanderzusetzen und dem Wiederaufleben des Antisemitismus in unserer Gesellschaft zu widerstehen.“

6. Erst 2016 – im Jahr vor dem Reformationsjubiläum – hat nach intensiver Auseinandersetzung mit dem Antijudaismus der Reformatoren die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) explizit einen Verzicht auf „Judenmission" ausgesprochen: „Alle Bemühungen, Juden zum Religionswechsel zu bewegen, widersprechen dem Bekenntnis zur Treue Gottes und der Erwählung Israels.“ Rabbiner Nathan Peter Levinson hatte eine entsprechende Bitte bereits beim Landeskirchentag 1982 ausgesprochen: „Bitte, keine Judenmission, am allerwenigsten in diesem Lande.“

B Was wir im Gespräch mit Jüdinnen und Juden wahrnehmen

1. „Dabru Emet - Redet Wahrheit“, die Erklärung von mehr als 200 liberalen amerikanischen Rabbinern und Intellektuellen reagierte im Jahr 2000 auf die von christlicher Seite angestrengten Bemühungen um ein neues Verhältnis zwischen Juden und Christen. Die Erklärung differenziert im Blick auf die Shoah: Obwohl „zu viele Christen“ an den Grausamkeiten der Nazis gegen die Juden beteiligt waren und diese gebilligt haben, war „der Nationalsozialismus selbst kein zwangsläufiges Produkt des Christentums.“

2. Zugleich formuliert diese jüdische Erklärung eine tragfähige Bestimmung des Verhältnisses von Juden und Christen: „Wir respektieren das Christentum als einen Glauben, der innerhalb des Judentums entstand und nach wie vor wesentliche Kontakte zu ihm hat. Wir betrachten es nicht als eine Erweiterung des Judentums. Nur wenn wir unsere eigenen Traditionen pflegen, können wir in Aufrichtigkeit dieses Verhältnis weiterführen.“

3. Wie Juden im jüdisch-christlichen Dialog als Juden verstanden werden wollen, so sollen auch Christen in diesem Dialog als Christen von ihrem Glauben reden. Christen sollen nicht verleugnen, dass sie von jener Trennungsgeschichte herkommen, die so entsetzliche Konsequenzen für die Juden hatte. Ebenso wenig sind Christen dazu berufen, „Israel den Weg zu Gott und seinem Heil zu weisen.“ (EKD-Synode 2016) Der Dialog ist schon erfolgreich, wenn beide, Juden und Christen, dadurch zu Menschen werden, „die offener geworden sind für sich selbst und für die anderen" (Ernst Simon).

4. Die Erklärung von mehr als 50 orthodoxen Rabbinern zum Christentum: „Den Willen unseres Vaters im Himmel tun: Hin zu der Partnerschaft zwischen Juden und Christen“ nimmt 2015 Bezug auf „Nostra Aetate", die Erklärung des II. Vatikanischen Konzils, und stellt fest: „Jetzt, da die katholische Kirche den ewigen Bund zwischen G-t und Israel anerkannt hat, können wir Juden die fortwährende konstruktive Gültigkeit des Christentums als unserem Partner bei der Welterlösung anerkennen, ohne jede Angst, dass dies zu missionarischen Zwecken missbraucht werden könnte.“

5. Jüdisch-orthodoxe Theologen zitieren heute zustimmend das Votum des streitbaren Jacob Emden, der sich nach der Stadt nannte, in der er von 1729 – 1732 als Rabbiner wirkte: „Jesus ließ der Welt eine doppelte Güte zuteil werden: Einerseits stärkte er die Torah von Moses in majestätische Art... Andererseits beseitigte er die Götzen der Völker und verpflichtete die Völker auf die sieben Noachidischen Gebote... Christen sind Gemeinden, die zum himmlischen Wohl wirken und zu Dauerhaftigkeit bestimmt sind.“ Als Christen sollten wir von unserer Verantwortung vor Gott und unserer Aufgabe in der Welt nicht geringer denken als jener erstaunliche Rabbi Emden.

6. Zum Beispiel Felix Mendelssohn Bartholdy: Aus einer assimilierten und zum Christentum konvertierten jüdischen Familie stammend und mit der Tochter eines französisch-reformierten Pastors verheiratet, behält er seinen Großvaternamen „Mendelssohn" bei. Er entdeckt die Werke Johann Sebastian Bachs und setzt, dessen Beispiel folgend, die Stoffe seiner ererbten und angenommenen jüdisch-christlichen religiösen Identität musikalisch um: z.B. in den Oratorien „Elias" und „Paulus". Von Richard Wagner und dann in der Nazi-Zeit werden seine Werke öffentlich verfemt. Selbst ein assimilierter und konvertierter Jude entkam also nicht den rassistischen Affekten des Antisemitismus. Mendelssohn Bartholdys geistliche Werke erfreuen sich inzwischen auch in unserer Kirche uneingeschränkter Beliebtheit.

C Was uns heute zu schaffen macht – neuer, auch israelbezogener Antisemitismus

1. Der Antisemitismus ist mit der Einsicht in die Untaten der Nazis leider keineswegs besiegt. Er äußert sich weltweit und erschütternder Weise immer wieder auch in Deutschland in Worten, Affekten und Verbrechen. Die Covid-Pandemie wurde in Deutschland dazu genutzt, Infektionsschutz-Maßnahmen mit den Gewalttaten des NS-Regimes gegen die Juden gleichzusetzen. Erfundene Behauptungen einer „Weltverschwörung“ als Ursache der Pandemie wiederholen antisemitische Fake-Narrative. Dem müssen wir auch als Kirche begegnen: durch theologische und geschichtliche Aufklärung, durch nachhaltige Bildungsarbeit und im couragierten Widerspruch gegen Vorurteile und Verdächtigungen gegenüber „den Juden“.

2. Antisemitismus äußert sich auch in Form einer „doch erlaubten“ Kritik an der Politik des Staates Israel. Kritik an der Politik Israels ist dann antisemitisch, wenn sie mit unterschiedlichen Maßstäben misst („doppelte Standards“), wenn sie Israel das Existenzrecht abspricht (De-legitimation) oder wenn Israel dämonisiert wird, z.B. durch NS-Vergleiche (sogenannter „3-D-Test“ der International Holocaust Remembrance Alliance). „Israel ist an allem schuld“ ist das allzu bekannte (un)heimliche Motto vieler Palästina-Solidaritäts-Aktionen.

3. Auch um der besonderen geschichtlichen Verantwortung willen, die wir als Deutsche tragen, muss unsere Kirche in der internationalen ökumenischen Zusammenarbeit protestieren, wenn dabei – womöglich aus  falsch verstandener Solidarität mit den palästinensischen Christen – anti-israelische Aussagen gemacht werden, die dem Antisemitismus Vorschub leisten. Es gibt keine „doppelte Solidarität“ mit dem Staat Israel und mit den Palästinensern in den besetzten Gebieten: Unsere unbedingte Solidarität verdienen allerdings jene, die auf beiden Seiten des Konflikts unermüdlich Brücken der Begegnung bauen.

4. Innerkirchlich wird die Boykottbewegung auch in Deutschland von der „Kairos Palästina“-Gruppe unterstützt. Die Bestrebungen der Palästinenser nach besseren Lebensbedingungen  zu unterstützen, ist nicht nur legitim, sondern notwendig. Das Existenzrecht Israels in Frage zu stellen, wie es die BDS-Bewegung implizit und explizit tut, ist aber gerade kein Beitrag zur Verbesserung der Situation. Der Einsatz für Menschenrechte und gegen willkürliche Gewalt ist erst glaubwürdig, wenn er gleichermaßen gegenüber allen Seiten in diesem Konflikt geltend gemacht wird.

5. Nachdem im Herbst 2019 der Deutsche Bundestag die internationale Kampagne „Boycott Divestment and Sanctions“ (BDS) gegen Israel in ihren Argumentationsmustern und Methoden als „antisemitisch“ klassifiziert hatte, hat der Rat der EKD im Februar 2020 eine eigene, differenzierende Stellungnahme zu BDS veröffentlicht. In der Erklärung wird klar festgehalten: „Die Evangelische Kirche lehnt Boykottmaßnahmen gegen Israel ab und beteiligt sich nicht an entsprechenden Projekten der BDS-Kampagne.“ Zugleich wirbt der Rat der EKD eindringlich für einen konstruktiven Dialog und für den respektvollen Umgang mit anderen Auffassungen: „In einem solchen Dialog haben Positionen..., die einseitig Israel diffamieren und dämonisieren oder antisemitische Positionen einnehmen, ebenso wenig Raum wie jene, die jegliche Kritik an der Regierung Israels und ihrer Politik als judenfeindlich zurückweisen und unter einen antisemitischen Generalverdacht stellen.“

6. Der kirchliche Antijudaismus entwickelte sich aus einer problematischen Auslegung der biblischen Schriften und war über Jahrhunderte ein zusätzlicher Antrieb für fremdenfeindliche, rassistische und gewalttätige Volksverhetzung gegen „die Juden“. Das verlangt in der exegetischen Ausbildung und der verkündigenden Praxis der Kirche eine intensive Auseinandersetzung mit jenen verhängnisvollen Lesarten. Allerdings: Mit der Frage nach den Ursprüngen der christlichen Judenfeindschaft müssen wir zu den Ursprüngen des Christentums selber zurückgehen und treffen „ins Herz der christlichen Theologie“ (so Christine Gerber in ihrem Beitrag: „Tragödie der Nähe. Wie Juden und Christen sich trennten und was das heute bedeutet“, in: Wende-Zeit, 2009; auf ihre erhellende Darstellung der exegetischen Diskussionslage stütze ich mich im Folgenden wesentlich).

D Erkenntnisse aus dem jüdisch-christlichen Dialog, die uns theologisch herausfordern

1. Der grundlegende Satz lautet: Jesus von Nazareth war kein Christ. Jesus von Nazareth lebte und starb als Jude seiner Zeit. Dietrich Bonhoeffer hat 1941 daraus die Einsicht abgeleitet: „Eine Verstoßung der Juden aus Europa wird die Verstoßung der Christen nach sich ziehen. Denn Jesus Christus war Jude.“

2. Der zweite Satz heißt: „Die ersten Christen waren Juden!“ (Klaus Wengst in seinem gut lesbarem und sehr empfehlenswerten Buch von 2021: „Wie das Christentum entstand“). Die Schriften des Neuen Testaments stammen von jüdischen Autoren. In den Konflikt-Passagen des Neuen Testaments zeigt sich die erbitterte innerjüdische (!) Konkurrenz der „Anhänger des neuen Weges“ gegenüber denen, die als Juden die Christus-Verkündigung ablehnten. Die Rede von „Juden“ und „Christen“ ist zumindest im Blick auf das 1. Jahrhundert ein irreführender Anachronismus. Differenzierter spricht man heute von „Trennungsprozessen zwischen frühem Christentum und Judentum“ (Bernd Wander).

3. Die Geschichte, die zur Trennung von „Judentum“ und „Christentum“ führte, muss neu begriffen und auf neue Weise unterrichtet werden. Dazu bedarf es einer sozialgeschichtlich, ideologiekritisch und theologisch aufgeweckten Lektüre der neutestamentlichen Schriften, nicht nur an den Universitäten, sondern auch in den Gemeinden: in Predigt, Unterricht und Bibelarbeit. Eine solche Lektüre wird seit dem Jahr 2000 bahnbrechend durchgeführt im „Theologischen Kommentar zum Neuen Testament“, W. Kohlhammer Verlag, Stuttgart.

4. Die neutestamentlichen Quellen über Jesus, die Evangelien und die Apostelgeschichte, wurden schriftlich erst nach dem Jahr 70 fixiert - „also erst eine gute Generation und einen Krieg später. Sie reflektieren eine spätere Situation, prägen jedoch unsere Wahrnehmung des Auftretens Jesu und seiner Jünger als einer dramatischen Konfliktgeschichte.“ (Christine Gerber) Dabei sind sie Zeugnisse der Identitätssuche einer Minderheit, die stets auch der Abgrenzung gegenüber der anders orientierten Mehrheit bedarf.

5. Polemische Formulierungen der Abgrenzung, die einer verfolgten Minderheit in der Defensive vielleicht nachgesehen werden können, sind später als Programmsätze und Kampfparolen einer christlichen Majorität gegen eine jüdische Minderheit furchtbar missbraucht worden. Zentral geschah dies mit der Passionsgeschichte, in der gegen jede historische Plausibilität pauschal „dem Volk“ und dann „den Juden“ die Schuld am Tod Jesu angelastet wird, gipfelnd in der angeblichen „Selbstverfluchung“: „Sein Blut über uns und über unsere Kinder!“ (Mt. 27,25) Die regelmäßige liturgische Inszenierung dieser fiktiven Gegenüberstellung führte später mit schrecklicher Regelmäßigkeit am Karfreitag zu antijüdischen Pogromen.

6. Zentrale Konfliktpunkte der innerjüdischen Kontroversen um die Christusgläubigen waren nach den neutestamentlichen Zeugnissen die Christologie und die Frage nach der Einhaltung der Tora. Beide Konfliktthemen weiteten sich zu einer Auseinandersetzung um die richtige Auslegung der zunächst gemeinsamen Schriftgrundlage: der Septuaginta, der griechischen Übersetzung der Hebräischen Bibel. Dennoch sind weder die christologische Frage noch der Konflikt um die Tora als solche von vornherein „Sollbruchstellen“ zwischen den Christusgläubigen und dem Judentum. Dagegen spricht schon die Existenz judenchristlicher Gemeinden als einer eigenständigen Größe bis ins 4. Jahrhundert hinein.

E Neue Sichtweisen – die Zukunft des christlich-jüdischen Dialogs

1. Der britische Neutestamentler James Dunn verabschiedete 1991 mit seiner These von den „Partings of the Ways“ (im Plural!) die Vorstellung von der einen „Trennung zwischen Christentum und Judentum“ im 1. Jahrhundert. Vielmehr identifiziert er strittige Themen, die im Zeitraum zwischen der Zerstörung Jerusalems (70 n. Chr.) und dem Bar-Kochba-Krieg (132-135 n. Chr.) Anlass zu Trennungen wurden. Zentral für das Selbstverständnis des Judentums seien in der Zeit des Zweiten Tempels folgende identity marker gewesen: Tempel, Erwählung und Bund, Tora, Einzigkeit Gottes. Indem Christusgläubige allmählich diese identitätsstiftenden Größen infrage stellten, trennten sich die Wege: „The Parting of the ways was more between mainstream Christianity and Jewish Christianity than simply between Christianity as a single whole and rabbinic Judaism.“ (James Dunn)

2. Freilich wurde Dunns in mancher Hinsicht plausibler These entgegen gehalten, dass das Judentum zur Zeit Jesu und der Urgemeinde keineswegs eine einheitliche Größe war. So wurde die Frage nach den jüdischen Identitätszeichen in der Diaspora seit je und nach dem verlorenen Krieg auch im palästinischen Judentum unterschiedlich beantwortet. Von daher konnten auch Gemeinsamkeiten und Grenzziehungen zwischen christusgläubigen und anderen jüdischen Gruppen sehr unterschiedlich ausfallen.

3. Daniel Boyarin, orthodoxer Jude und Professor für talmudische Kultur in Berkeley, steht für eine Gegenthese, die in den 2000er Jahren das Feld der Diskussion neu aufgerollt hat: „The Ways that never parted“. Nicht wie Mutter und Tochter sei das Verhältnis von rabbinischem Judentum und orthodoxem Christentum zu beschreiben, so Boyarin, sondern: „They are twins, joined at the hips.“ Es habe auch später stets Wechselwirkungen zwischen Christen und Juden gegeben. Gegenseitige Grenzziehungen seinen jeweils auch für das Selbstverständnis der anderen von Bedeutung gewesen. Die Entstehung der zwei Glaubensweisen sei mit der Entwicklung zweier verwandter Sprachen zu vergleichen.

4. Boyarin provoziert herkömmliche jüdische und christliche Sichtweisen, wenn er Paulus nicht etwa als Gegner des damaligen Judentums versteht, sondern als konsequenten Verfechter einer den Glauben Israels universalisierenden Spielart. Und in seinem Buch: „Die jüdischen Evangelien“ von 2012 möchte er nachweisen, dass selbst die Aussagen der hohen Christologie im Neuen Testament gar nicht so „neu“ seien: „Die Zentralbotschaft vom Erlöser, die als Proprium des Christentums gesehen wird und im Credo kondensiert ist, ... stammt aus dem breiten Strom jüdischer Glaubensvorstellungen um die Zeitenwende.“ (Johann Ev. Hafner)

5. Bereits 1982 hat Wolfgang Schrage in der Diskussion um den Rheinischen Synodalbeschluss darauf hingewiesen, dass das bleibende „Ja“ zu Israel im Neuen Testament dialektisch auch ein „bestimmtes Nein“ in sich trägt: „Nicht ist Antijudaismus die ‚linke Hand der Christologie‘ und erst recht nicht die Christologie immer schon ‚die Kehrseite des Antisemitismus‘ (Rosemary Radford Ruether), wohl aber impliziert das Bekenntnis zum Gekreuzigten in der Tat ein bestimmtes Nein zum Judentum.“ Dieses Nein kann – von den Verzerrungen im existentiellen Streit zweier verschwisterter Glaubenswege befreit – im Dialog ausgehalten werden – genauso wie aus jüdischer Perspektive ein „bestimmtes Nein“ gegenüber dem Christentum notwendig und auszuhalten ist.

6. Die Dialektik von Ja und Nein gilt schon bei Jesus und Paulus auch für das Verhältnis zur Tora. Gerade reformierte Christen können in der Begegnung mit dem Judentum ein neues Verständnis gewinnen für die positive Bedeutung der Tora in ihrer eigenen Konfession. Bereits 1982 in Aurich stellte Landessuperintendent Gerhard Nordholt fest: „In den reformierten Gemeinden wird auch heute noch die Freude am Gesetz des Herrn gepredigt. Es ist nicht nur ein Zuchtmeister auf Christus hin.“ Die biblischen Rechtsgrundsätze wie z.B. der Dekalog sind eben nicht als „Gesetz", sondern als „Weisungen" zu verstehen, die für das Zusammenleben aller Menschen heilsam sind. Es geht dann nicht zuletzt um den Zusammenhang von „Rechtfertigung und Recht" (Karl Barth).

Diese historisch-theologische Thesenreihe entstand aus Anlass einer Veranstaltung unserer Landeskirche zum christlich-jüdischen Dialog im Herbst 2020. Nach einer Vorstellung im gesamtkirchlichen Ausschuss für das christlich-jüdische Gespräch im Juli 2021 habe ich sie nun - zum 40. Jahrestag jenes denkwürdigen Landeskirchentages in Aurich 1982 - fertiggestellt.


Martin Heimbucher