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Vergissmeinnicht
Predigt zu Jes 1, 4.7-10.16-20 am 15. November 2020 (Volkstrauertag) in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche
Liebe Gemeinde,
„Man geht hindurch, als liefe man im Traum durch Sodom und Gomorra. Durch den Traum fahren mitunter klingelnde Straßenbahnen. In dieser Steinwüste hat kein Mensch etwas zu suchen, er muss sie höchstens durchqueren. Von einem Ufer des Lebens zum anderen. (…) Wie von einem Zyklon an Land geschleuderte Wracks riesenhafter Dampfer liegen zerborstene Kirchen umher.“
Im September 1946 besucht Erich Kästner zum ersten Mal nach dem Krieg seine Heimatstadt Dresden. Sie kommt ihm wie Sodom und Gomorrha vor. Viele Städte in Deutschland hätten so heißen können, denn die Bilder aus den Nächten des Bombenkriegs, den Tagen und Jahren danach gleichen sich. Die dabei am schlimmsten getroffenen Städte sind oft nicht so prominent wie Erich Kästners Dresden. In Pforzheim etwa starb jeder dritte Bewohner während eines nur 16 Minuten dauernden Angriffs. Trümmerlandschaften prägten über Jahrzehnte das Gesicht deutscher Städte.
Euer Land ist verwüstet, eure Städte sind mit Feuer verbrannt; Fremde verzehren eure Äcker vor euren Augen; alles ist verwüstet wie beim Untergang Sodoms. (Jes 1,7)
Der Prophet Jesaja hatte seinem Volk das Gericht Gottes anzukündigen. Und in den Bombennächten des 2. Weltkriegs sind diese Worte noch einmal wahr geworden. Auch in der Nacht vom 22. auf den 23. November 1943: „Auf der Straße angekommen, sah ich das hohe Dach der Gedächtniskirche lichterloh brennen, und auch die Tauentzienstraße wurde durch die Flammen brennender Häuser erhellt. Die Straße war übersät von Trümmern und ausgebrannten Resten von Brandbomben und Phosphorkanistern und herabhängenden Oberleitungen der Straßenbahn.“ Fast 80 Jahre später ist die Enttrümmerung Berlins längst erfolgreich abgeschlossen. Der Schaden späterer Bauprojekte ist an manchen Stellen sogar größer als die Kriegsverletzungen.
Übrig geblieben ist allein die Tochter Zion wie ein Häuslein im Weinberg, wie eine Nachthütte im Gurkenfeld, wie eine belagerte Stadt. Hätte uns der HERR Zebaoth nicht einen geringen Rest übrig gelassen, so wären wir wie Sodom und gleich wie Gomorra. (Jes 1,8f.)
Gott hat einen Rest übrig gelassen. Dieser geringe Rest, das Häuslein, die Nachthütte, steht mitten in Berlin auf dem Breitscheidplatz. Der alte Turm der Gedächtniskirche ragt genauso abgebrochen wie vor fast 80 Jahren in den Himmel. Dieser ewiger Fingerzeig. Er erhebt sich, damit wir vergesslichen Menschen nicht vergessen. Unser Land ist verwüstet worden, unsere Städte sind mit Feuer verbrannt, weil von unserem Land der Krieg ausgegangen und wieder zu uns zurückgekehrt ist.
Denn jedes Mal, wenn ich die Geschichte dieser Kirche erzähle, dann erzähle ich auch von der Zerstörung Coventrys heute vor 80 Jahren. Es ist ein besonders abstoßendes Detail in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, dass die deutsche Propaganda meinte, für ihre Luftangriffe auf das Vereinigte Königreich ein eigenes Verb erfinden zu müssen. Und es war die Zerstörung der mittelenglischen Stadt Coventry, die den Anlass dazu gab. in seiner Abhandlung über die Lingua Tertii Imperii, der „Sprache des Dritten Reichs“ hat der jüdische Sprachwissenschaftler Victor Klemperer dem Verb „coventrieren“ einen eigenen Abschnitt gewidmet.
In der Nacht vom 14. auf den 15. November 1940 flogen deutsche Bomber einen Angriff, der den zynischen Decknamen „Operation Mondscheinsonate“ bekommen hatte. Über 500 deutsche Bomber warfen die ganze Nacht über ihre Bomben ab. Schon um 20 Uhr stand die Kathedrale St. Michael’s in Flammen. Der damalige Dompropst Richard Howard versuchte selbst noch, dort Brände mit Sand zu löschen, musste aber wegen der andauernden Bombardierung bald aufgeben. Als einzige Kathedrale im ganzen Königreich wurde die aus dem 14. Jahrhundert stammende St. Michael’s-Kathedrale völlig zerstört.
Und dann bin ich jedes Mal froh, dass ich noch mehr erzählen kann. Dass der englische Angriff auf Berlin und andere deutsche Städte eben nicht nur die Vergeltung für den deutschen Angriff auf Coventry und andere britische Städte geblieben ist, sondern dass daraus eine bewegende und einzigartige Geschichte echter Versöhnung wurde.
„Das Verbum coventrieren liegt begraben unter dem Schutt deutscher Städte“ schreibt Victor Klemperer. Es liegt auch hier, uns zu Füßen, begraben unter den Trümmern der Gedächtniskirche. Im Erzählen dieser Geschichte komme ich dem Geheimnis der Versöhnung auf die Spur. Versöhnung ist nicht die Stille nach dem „wie du mir, so ich dir“. Versöhnung bedeutet auch nicht, das, was gewesen ist, unter den Teppich zu kehren und zu hoffen, dass es sich mit der Zeit festtritt.
Höret des HERRN Wort, ihr Herren von Sodom! Nimm zu Ohren die Weisung unsres Gottes, du Volk von Gomorra! Wascht euch, reinigt euch, tut eure bösen Taten aus meinen Augen, lasst ab vom Bösen! (Jes 1, 10.16f)
Gott verspricht seinem Volk einen neuen Anfang, eine zweite Chance, anders als bei der Zerstörung von Sodom und Gomorrha, wo sich nicht einmal zehn Gerechte in der Stadt finden ließen und die dann vollkommen zerstört wurden.
Wascht euch, reinigt euch, tut eure bösen Taten aus meinen Augen, lasst ab vom Bösen! Auch diese prophetischen Worte sind unter uns wahr geworden. „Es gibt wenige Orte auf der Welt, an denen sich Menschen bewusst dafür entscheiden, sich an das Leid zu erinnern, das sie anderen zugefügt haben.“ hat John Witcombe über die Gedächtniskirche gesagt. Sie ist zum Glück nur einer von vielen Orten in Deutschland, ein Beispiel für die vielen verschiedenen Wege, auf denen wir versuchen, die Wunden der Vergangenheit zu heilen.
Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, die vielen Mahn- und Gedenkstätten, Initiativen, Bildungsprojekte und Erinnerungsorte. Das sind die Orte, an denen wir waschen, ohne reinwaschen zu wollen, im Eingeständnis unserer historischen Schuld und im Wissen um unsere gegenwärtige Verantwortung. Mit diesem Waschen ist es genau wie mit der normalen Wäsche, fertig wird man damit nie. Und eh man sich’s versieht, ist schon wieder jede Menge Schmutzwäsche da.
Die Wunden des Krieges sind nach 80 Jahren in Coventry und in Berlin geheilt, im Gesicht der Städte und auch durch den Neubau der beiden zerstörten Kirchen. In einzigartiger Weise bleiben aber in Coventry und in Berlin die Wunden der Vergangenheit sichtbar.
Anders als in anderen Konzepten des Wiederaufbaus, wie etwa bei der Frauenkirche in Dresden oder auch der Garnisonkirche in Potsdam, ist die gebrochene Vergangenheit hier zu sehen. Es ist die sichtbare, sogar anfassbare Erinnerung an die „Gangstertaten“ (Victor Klemperer) der deutschen Geschichte genauso wie die Erinnerung daran, dass jede Art von Vergeltung nur weitere Zerstörung bedeutet. Die Kirchen in Coventry und Berlin sind Schwestern, die das gleiche erlebt haben, die mit den gleichen Gefühlen von Ohnmacht und Wut, Scham und Verzweiflung umgehen müssen.
Richard Howard, der Dompropst von Coventry, konnte die echten Brände in der Kathedrale nicht löschen. Aber sein Engagement für Versöhnung hat zuverlässig und dauerhaft den Brand gelöscht, der in Menschenherzen nur allzu leicht zu entfachen ist: Hass und Vergeltung. Er hat sich keine Freunde damit gemacht, er war ein einsamer Prophet, als er schon zu Weihnachten 1940 Versöhnung aufrief. „Dass es bei der Arbeit, die man tut, wirklich um Versöhnung geht, ist am ehesten daran zu merken, dass deine eigenen Leute meinen, du hättest sie betrogen.“ (John Lederach)
Richard Howard ist aber auch in anderer Weise ein Prophet gewesen: „Die Kathedrale wird auferstehen, sie wird wiederaufgebaut werden und sie wird der Stolz der zukünftigen Generationen sein so wie sie der Stolz vergangener Generationen war“ sagte er schon kurz nach dem Angriff von 1940. Er hat recht behalten. Versöhnung ist und bleibt eine Aufgabe für Generationen. Die Wunden der Vergangenheit heilen, aber sie bleiben sichtbar. Das haben wir in Coventry und in Berlin erlebt. Und wir geben es weiter an die, die nach uns kommen. Auf die Frage, wie denn die blaue Kirche auf dem Breitscheidplatz heiße, soll ein Kind einmal gesagt haben: „Ich weiß es! Vergissmeinnicht-Kirche!“ Und dieses Vergissmeinnicht soll blühen.
Amen
Kathrin Oxen