Der Sieg von Cochita Wurst beim Eurovision Song Contest ist in aller Munde. Wäre es nach den Fans des Musikspektakels gegangen, hätte Österreich aus Deutschland zwölf Punkte bekommen. Doch die Jury befand wohl wie mein zwölfjähriger Sohn: „Das klingt ja wie ein James Bond Titelsong“ und fand das Dargebrachte wenig originell.
Das beste Lied ist aber schon zu Grand-Prix-Zeiten selten ausgezeichnet worden. Stets zählte und zählt auch die Show darum herum. Und die sprach in diesem Fall schon lange vor dem Wettbewerb für den Sieg des Travestie-Künstlers. Denn Friedens- und Toleranz-Botschaften kommen beim europäischen ESC-Publikum gut an. Auch aus Ländern, in denen Homo- und Transsexualität von staatlicher und kirchlicher Seite sanktioniert werden, kamen begeisterte Voten aus der Bevölkerung für die bärtige Diva.
Szenenwechsel. Derweil tourt ein Katzenkrimi-Autor durch Deutschland und verkündet, dass „Deutschland von Sinnen“ sei. Akif Pirinҫci schwingt sich in seinem gleichnamigen Bestseller dazu auf, der Mehrheit eine Stimme zu geben, die angeblich durch linke Massenmedien zu dieser allumfassenden Toleranz nur gezwungen wird. Er tut das in einer obzönen Sprache und einer entfesselten Empörung über Feminismus, Homosexualität, Ausländer und die Steuergesetzgebung, die selbst an Stammtischen nicht durchgehen würde.
Wohlformuliert aber ebenso von der Angst vor zu viel Toleranz geprägt ist der jüngste Protest gegen den Entwurf des Sexualkunde-Lehrplans in Baden-Württemberg. Die Akzeptanz sexueller Vielfalt als Bildungsziel wird abgelehnt und als „pädagogische, moralische und ideologische Umerziehung“ diffamiert.
Zugegeben: Manche Initiativen schießen über das Ziel hinaus und manche Medien übertreiben es damit, sexuelle Neigungen von Künstlern und Prominenten zum Thema zu machen. Aber es ist doch klar, dass das sich spätestens dann ändern wird, wenn das Thema Diskriminierung tatsächlich endgültig durch ist und die Betroffenen selbst den Wunsch verspüren, nicht ständig über ihre Sexualität Auskunft geben zu müssen. Das ist im Übrigen bei ganz vielen längst der Fall, die sich von ihrem Umfeld akzeptiert fühlen und ein "normales" Leben führen können. Anderen kann es leider noch längst nicht so gehen.
Diejenigen, die den Medien eine Hysterie vorwerfen, schüren sie gerade selbst. Und manche Zwischentöne – oder auch laut hinaus posaunte Statements – lassen nichts Gutes ahnen: Es gibt eben immer noch solche, die von Ansteckungsgefahr und Krankheit sprechen und am liebsten Verbote wieder einführen würden, wie sie Putin in Russland verfügt hat.
Einen als Frau verkleideten Mann mit Vollbart muss man nicht mögen. Im Fall von Conchita Wurst alias Tom Neuwirth geht es um eine Kunstfigur. Ihre Botschaft richtet sich an Menschen, die unter Intoleranz leiden. Dafür hat sie die Punkte und den Sieg verdient – meine ich.
Tolerieren heißt eigentlich nur Erdulden, doch schon Goethe* forderte: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: Sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“ Es liegt also noch ein Stück des Weges vor uns, dass Menschen es schaffen, einander anzuerkennen wie sie von Gott geschaffen sind.
*) Goethe, Maximen und Reflexionen,
Artikel über das ESC-Ergebnis bei DIE WELT online