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Die „Ehebrecherin“ in Johannes 8 – eine Geschichte von Scham und Beschämung
Eine Bibelarbeit, geschrieben für Krankenhausseelsorgerinnen und -seelsorger
Es ist gut, dass auf dieser Tagung ein Gefühl thematisiert wird, über das in der Regel niemand gern spricht. Und es ist gut, dass die verschiedenen Facetten dieses Gefühls zur Sprache kommen. Denn neben den destruktiven Seiten von Scham, bzw. Beschämung, durch die Menschen tief verletzt und manchmal in ihrem Selbstbewusstsein völlig zerstört werden, kann Scham in einem „Raum der Würde“ (Stephan Marks) auch heilsame Veränderungen und Wachstum freisetzen. Beide Seiten von Scham finden sich in der Bibel. Das möchte ich anhand von Joh 8,1-11 zeigen.
Gleich am Anfang erfahren wir, dass eine Frau auf frischer Tat beim Ehebruch ertappt wurde. Pharisäer und Schriftgelehrte, die sich als Sittenwächter aufspielen, haben sie aus dem Bett gezerrt und sie in die Mitte der Menge gezwungen, die sich im Tempel um Jesus gesammelt hat, um von ihm zu lernen. Wahrscheinlich kann die Frau noch gar nicht richtig begreifen, was ihr geschehen ist. Und wahrscheinlich hat man ihr auch kaum Zeit gelassen, sich etwas Richtiges überzuziehen. So steht sie nun da, unordentlich bekleidet, mit wirrem Haar und erschrockenen Augen, ausgesetzt den Blicken der Menge, die sie taxieren, verspotten, anklagen. Kein Zweifel: für diese frommen Tempelbesucher ist sie nichts anderes als eine Schlampe, der nun hoffentlich eine deftige Lektion erteilt wird. Und wenn Frauen in der Menge sind, fällt das Urteil vielleicht noch gnadenloser aus, weil sie ihre eigene Ehe durch Frauen wie diese, die schamlos ihre Lust ausleben, gefährdet sehen. Wie Frauen miteinander umgehen ist aber ein anderes Thema...
Da steht sie nun jedenfalls, die ertappte Ehebrecherin, und durchleidet eine Beschämung, wie wir sie vielleicht aus Albträumen kennen: In der Mitte einer feindseligen, moralisch entrüsteten Meute, schutzlos ausgeliefert deren abschätzigen Blicken und geifernden Kommentaren, Objekt blutrünstiger Bestrafungslust.
Ahnen Sie, was diese Frau durchmacht? Wie ihr alles Blut aus dem Gesicht weicht, ihre Knie weich werden, sie nur noch im Boden versinken will? Ist sie überhaupt noch fähig, etwas zu denken, oder ist sie innerlich erstarrt, gefroren, mitten in der Hitze Jerusalems?
Und warum eigentlich steht sie so allein da? Wo ist der Mann, für den sie das alles riskiert hat? Der, mit dem sie noch wenig vorher vielleicht ein völlig unverschämtes, paradiesisches Glück erlebt hat, eine körperliche und geistige Ergänzung ohne Tabu, ohne Angst, sich rückhaltlos zu zeigen, ohne die Masken, hinter denen man sonst Schwäche, Fehler und Verletzlichkeit verbirgt. Wo ist der Liebhaber dieser Frau, der mit ihr Momente ungeahnter Freiheit und Erfüllung geteilt hat, wie sie nur in einer Beziehung möglich sind, die keine Scham kennt, in der beide Partner – wie im Paradies – nackt sein dürfen, ohne ein harsches Urteil, ohne Zurückweisung fürchten zu müssen.
Warum steht der Geliebte nicht neben der Frau? Hat er sie schmählich im Stich gelassen, sich irgendwie dadurch getan und womöglich – wie Adam im Paradies beim Ertapptwerden behauptet, sie habe ihn verführt, er sei eigentlich nur das Opfer ihrer Schamlosigkeit? Hat er also die typischen Abwehrreflexe gegen seine eigene Beschämung gezeigt: fight, flight, blame?
Oder ist er gegen seinen Willen und womöglich mit Gewalt von seiner Freundin getrennt worden, weil die selbsternannten Sittenwächter eh davon ausgehen, dass immer die Frau an allem schuld ist?
Wir wissen es nicht. Wir sehen nur diese Frau, ganz allein ausgesetzt der öffentlichen Bloßstellung und Beschämung. Und unsere Bibelübersetzungen drücken ihr ihrerseits noch einen „Schamstempel“ auf, indem sie ihre ganze Person unter die schändliche Bezeichnung „Ehebrecherin“ subsumieren.
Es ist ein beklemmendes Szenario, in dem die Pharisäer und Schriftgelehrten nun ihre Anklage erheben. Während die Frau weiter in der Mitte steht, versuchen sie, Jesus in einen fachlichen Rechtsdisput über sie zu ziehen: „Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. Mose hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du?“ (4f)
Sie können sich die Situation sicher gut vorstellen. Als KrankenhausseelsorgerInnen erleben Sie ja, wie oft das geschieht, dass Ärztinnen, die über die Behandlung von Patienten zu entscheiden haben, im Beisein der Kranken über sie reden, als wären sie gar nicht anwesend, als wären sie lediglich ein medizinischer Fall, der geklärt werden muss. Und Sie wissen, wie kränkend das für die Patienten ist. Einfach übergangen, wie Luft behandelt zu werden, spricht dem Betroffenen seine Würde, ja sein Dasein als Person ab.
Und das geschieht auch hier in der Geschichte. Die schon tief beschämte Frau wird noch zusätzlich gedemütigt dadurch, dass über sie hinweggeredet wird, ja, dass sie benutzt wird, um Jesus eine Falle zu stellen, wie es ganz offen heißt.
Und wie reagiert Jesus?
Er schreibt mit dem Finger auf die Erde, d.h. wenn Sie sich das bildlich vorstellen: er schaut zu Boden, er weicht diesem Gespräch aus, er beschäftigt sich ganz offensichtlich mit etwas Anderem. Ich deute das als eine Form von Fremdschämen. Denn bei anderen Gelegenheiten diskutiert Jesus – wie jeder fromme Jude – gern und heftig Fragen der Tora, und legt sich auf Augenhöhe mit den Pharisäern an, denen er selbst ja auch nahesteht. Aber hier macht er nicht mit. Hier entzieht er sich der für die Frau mehr als peinlichen Diskussion. Jesus lässt sich nicht zum Komplizen ihrer Beschämung machen. Und damit repräsentiert er die Haltung seines Vaters im Himmel. Denn der ist ein Gott, der Menschen aus Beschämung herausführt. Die Befreiung der Sklaven aus der Willkür ägyptischer Herrscher steht dafür, aber auch Gottes beharrliches Insistieren auf dem Recht der Armen und Wehrlosen im eigenen Volk, sein Gebot, alle Demütigung zu beenden.
„Wer einen Menschen öffentlich beschämt, dem wird es angerechnet wie Blutvergießen“, heißt es dementsprechend in der rabbinischen Tradition. Und so gesehen ist es konsequent, dass Jesus sich nicht an der Beschämung der Frau beteiligt.
Erst als die Pharisäer und Schriftgelehrten immer penetranter werden, reagiert Jesus. Und erst jetzt richtet er sich auf und blickt sie an: „Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.“
Mit dieser Aufforderung lenkt Jesus die Aufmerksamkeit von der Frau weg hin auf ihre Ankläger selbst. Nun haben sie nicht mehr über eine andere Person zu urteilen, sondern über sich selbst: Sind sie ohne Sünde?
Ich finde es bemerkenswert, dass die Pharisäer und Schriftgelehrten diese Frage an sich herankommen lassen. Dass sie sich von ihr in ihrem Geifern über die Frau unterbrechen lassen. Dass sie sich im wahrsten Sinne des Wortes zur „Besinnung bringen“ lassen.
Das möchte ich aus dem Grund besonders betonen, weil Christen Pharisäer und Schriftgelehrte so oft pauschal der Heuchelei geziehen, sie als selbstgerecht, legalistisch und unmenschlich bezeichnet haben und sich selbst über sie moralisch erhoben haben frei nach dem Motto: Gott sei Dank, dass ich nicht bin wie diese da! Solchen Christen sei diese Reaktion der Pharisäer und Schriftgelehrten ins Stammbuch geschrieben! Denn hier lassen sie sich auf eindrückliche Weise von Jesus in Frage stellen. Und einer nach dem anderen verlässt die Runde der selbstsicheren Ankläger. Alle, die gerade noch vollmundig über die Frau geurteilt haben, sind bereit zuzugeben, dass keiner von ihnen selbst ohne Sünde ist vor Gott.
Jesu Selbstprüfungsauftrag beschämt sie. Aber er beschämt sie auf heilsame Weise, weil sie dadurch von ihrem überhöhten Sockel herunterholt und zu einer demütigen Erkenntnis bewegt werden, die sie mit der Frau verbindet: Die Erkenntnis ihres eigenen Sünderseins, ihrer eigenen Angewiesenheit auf Gnade und Erbarmen. Jesus mutet ihnen eine Schamerfahrung zu, an der sie wachsen und durch die sie menschlicher werden können in ihrem Urteil über andere.
Eine solche heilsame Schamerfahrung ist, wie Stephan Marks betont, an einen „Raum der Würde“ gebunden. Diesen Raum lässt Jesus den Pharisäern und Schriftgelehrten. Er stellt ihnen eine Frage, die sie selbst – jeder für sich-beantworten müssen. Er bringt ihnen Respekt und Zutrauen entgegen, was ihre theologische Ernsthaftigkeit angeht. Er setzt darauf, dass sie sich aufrichtig prüfen. In diesem Raum der Würde können sie in sich gehen, ihre Haltung ändern und ihre destruktiven Bestrafungswünsche aufgeben.
Jesus bleibt am Ende allein mit der Frau zurück. Bis auch der letzte ihrer Ankläger gegangen ist, hat er offenbar wieder zu Boden geschaut – vielleicht auch das, um den Pharisäern und Schriftgelehrten einen Raum der Würde zu geben, ihnen zu ersparen, sich beobachtet, vielleicht auch kontrolliert zu fühlen bei ihrem Umdenken oder in seinen Augen ein Urteil über sich zu lesen. Nun richtet sich Jesus wieder auf, wie es heißt, und spricht die Frau auf Augenhöhe an. Auch ihr stellt er eine Frage: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt?
Es ist eine Frage, die die Frau leicht beantworten kann, obwohl die Antwort schwer wiegt: Niemand, niemand hat sie verdammt. Auch Jesus verdammt sie nicht, gibt ihr aber eine Weisung mit auf den Weg: Geh hin und sündige hinfort nicht mehr.
Eine Weisung, die in meinen Augen offenlässt, was das genau heißt: Soll sie sich nie wieder mit dem Geliebten treffen? Sich nie wieder dem Glück der Liebe mit ihm hingeben, weil das eine gute Ordnung zerstört? Oder ist etwas ganz Anderes gemeint? Die Frau muss selbst urteilen: Über ihr Verhältnis mit dem Geliebten, über sich, über ihr künftiges Leben.
Jesus befreit sie aus der Beschämung durch andere, aus der traumatischen Erfahrung, ihrem Ehebruch öffentlich bloßgestellt zu werden. Durch ihn wird sie aus ihrem passiven Erleiden befreit und zu eigener Verantwortlichkeit für ihr weiteres Leben ermächtigt. Aber wird sie vielleicht auch durch Jesu Güte beschämt?
Eine Geschichte mit vielen Facetten von Scham und Beschämung. Und eine Geschichte, die deutlich macht: durch alle Beschämung hindurch geht es Gott darum, Menschen einen Weg zum Leben zu öffnen.
Literatur
Stephan Marks, Scham – die tabuisierte Emotion, Patmos Verlag 2015
Sylvia Bukowski, März 2016
...es gibt Dinge in meinem Leben, über die ich nicht reden will, weil ich mich schäme...
Ein Blick durchs Schlüsselloch. Wenn mich jetzt jemand so sieht. Oje. Die Augen eines anderen entblößen, wer ich nicht sein will.