…und häßlich stinken, weil es dem lieben Gott gefällt
Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion
I. Annäherungen
Alles verändert sich – auch die Sprache. Alles verändert sich, auch die Gedanken, die in der Sprache ihren Ausdruck finden. Manchmal sind die gedanklichen und die sprachlichen Veränderungen so groß, dass spätere Mühe haben, Sprache und Gedanken der Vorhergehenden nachvollziehen zu können.
Es gibt Sprach- und Gedankengrenzen, die das Bisherige derart in Frage stellen, dass man von epochalen Grenzen und Veränderungen ausgehen kann. Den Zeitgenossen erschließen sich diese Grenzen meist nicht in der Heftigkeit und in den weitreichenden Folgen, die sie zeitigen, aber den Nachgeborenen erscheint solch eine epochale Grenze oft unüberwindbar.
Am 27. April 1827 schreibt der Leiter der Berliner Singakademie, Karl Friedrich Zelter, an seinen Freund, Johann Wolfgang Goethe in Weimar:
„Das größte Hindernis in unserer Zeit, liegt freilich in den ganz verruchten deutschen Kirchentexten, welche dem polemischen Ernste der Reformation unterliegen, indem sie durch einen dicken Glaubensqualm den Unglauben aufstören, den niemand verlangt. Daß ein Genie, dem der Geschmack angeboren ist, aus solchem Boden einen Geist aufgehen lassen, der eine tiefe Wurzel haben muß, ist nun das Außerordentliche an ihm...“1
Im Zusammenhang unserer abendländischen Geschichte war die europäische Aufklärung solch eine Grenze. „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit!“2 – definierte Immanuel Kant – „Wage es, dich deines Verstandes ohne die Leitung eines anderen zu bedienen!“3. Die Autoritäten wurden angefragt: die Monarchien und der Adel, die pädagogischen Institutionen und die überkommenen Lehren der Medizin, der Physik und der Astronomie, natürlich waren die Kirchen angefragt und mit ihnen die biblische Botschaft – Dogma und das Adjektiv dogmatisch wurden zum Schimpfwort. Vernunft und Natur waren die Zauberworte der neuen Zeit, Gefühl und Wissenschaft, nicht mehr Glaube und Vertrauen.
Von uns aus gesehen liegen die Passionen, Oratorien und Kantaten Bachs vor dieser Grenze, die mit der Aufklärung gezogen worden ist. Manches ragt schon hinüber in die neue Zeit, anderes bleibt der alten verhaftet. Sprache und Gedankenwelt Bachs sind durchweg biblisch geprägt. Bachs Sprache ist weitgehend noch die Sprache Martin Luthers und der Theologen, die ihn treulich interpretierten.
Bachs Sprache ist noch die Sprache Paul Gerhardts, aber nicht die des Leipziger Professors Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769), der noch zu Bachs Zeit an der dortigen Universität Poesie lehrte.
Wenn ich, o Schöpfer, deine Macht,
die Weisheit deiner Wege,
die Liebe, die für alle wacht,
anbetend überlege:
so weiß ich, von Bewundrung voll,
nicht, wie ich dich erheben soll,
mein Gott, mein Herr und Vater!4
Für Bach noch wäre es undenkbar, sich auf einen theoretischen Standpunkt gleichsam Gott gegenüber zu stellen, um dann über seine Schöpfung zu sinnieren. Bach weiß sich selbst noch unmittelbar in die biblischen Texte verwickelt. Er ist nicht Zuschauer, er ist Beteiligter. Die Passion Jesu Christi hat unmittelbar mit ihm und mit seiner Gemeinde zu tun. Sein Textdichter Christian Friedrich Henrici (1700-1764), der sich als Poet „Picander“5 nannte, sieht es nicht anders. Uns dagegen liegt die nüchterne Sprache Gellerts weit näher als die Sprache Picanders, die Zelter als „Glaubensqualm“ bezeichnet.
Vergangene Sprache muss man entschlüsseln – gegenwärtige Sprache übrigens nicht selten auch - , man muss die vergangene Sprache lernen wie man eine Fremdsprache lernt, wenn man denn mehr als nur oberflächlich verstehen will, wenn man auch die offenen und die verborgenen Beziehungen zwischen Wort und Ton, zwischen Sprache und Musik an den Tag bringen will.
II. Die Bibel bestimmt die Sprache Johann Sebastian Bachs
Luthers Bibelübersetzung ist für die Entwicklung der deutschen Dialekte zu einer Kultur- und Schriftsprache von epochaler Bedeutung gewesen. Die Theologie und auch die Kirchenmusik folgen seiner „sächsischen Kanzlei-Sprache“. Aber es geht dabei nicht um lexikalisches und grammatikalisches Verständnis allein. Es geht auch um Anklänge und Verknüpfungen, verborgene Zusammenhänge, deren Zuordnung eines vertieften Bibelverständnisses bedarf.
Gerade die nicht-biblischen Texte der Matthäuspassion – aber auch der anderen Kantaten, Oratorien und Passionen ist voller biblischer Anspielungen. Die voraufgeklärten Menschen wussten anders mit der biblischen Überlieferung umzugehen, sie auf ihr eigenes Leben zu beziehen, und sie verfügten überdies über einen reichen Schatz an auswendig gelernten Bibelworten. Ein Beispiel aus der Bachschen Matthäuspassion:
Der Evangelist schildert die Gethsemane-Szene. Jesus bittet seine Jünger, mit ihm zu wachen und zu beten. Die Jünger sind müde und schlafen wiederholt ein. Jesus ringt mit Gott, ob es nicht einen anderen Ausweg gibt als den Weg in das Leiden.
„Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch von mir; doch nicht wie ich will, sondern wie du willt.“ (Matthäus 26, 39b.)
Der Schlüsselbegriff in diesem Gebet Jesu ist das Wort vom Kelch. Gemeint ist das Jesus bevorstehende Leiden, die Vorstellung, dass alles Künftige in einen Kelch gegossen ist, den Jesus austrinken muss, wenn er den Willen seines Vaters erfüllen will.6 Der in der hebräischen Bibel bewanderte Leser wird sich an ein Wort aus dem 2. Teil des Jesajabuches erinnern, in dem das Kelchwort ähnlich gebraucht wird:
„Werde wach, werde wach, steh auf, Jerusalem, die du getrunken hast von der Hand des Herrn den Kelch seines Grimmes! Den Taumelkelch hast du ausgetrunken, den Becher geleert.“ (Jes.51,17).
Wer (Alkohol) trinkt, der taumelt (irgendwann). Und wer taumelt, der hat jegliche Orientierung verloren. Der Taumel steht für das Verkehrte, der Taumelkelch für das Verkehrte der Welt, für die Sünde. Und wenn dann dieser Kelch ausgetrunken wird, werden muss bis zur Neige, mitsamt der ungenießbaren Weinhefe, dann ist das Maß des Schreckens, der mich überfallen kann, erreicht. Beim 2. Jesaja bleibt es Jerusalem erspart, den Kelch bis zur Neige mitsamt der nicht abgegossenen Weinhefe zu trinken. An Jesus geht dieser Kelch nicht vorüber.
Es ist das Verdienst der Theologin Elke Axmacher7, darauf hingewiesen zu haben, dass die Predigten des Rostocker Superintendenten Heinrich Müller (1631-1675) eine wichtige Quelle für das Verständnis der Matthäuspassion und ihres Librettos darstellen. Bei Heinrich Müller heißt es in seiner Passionspredigt:
Unsere Sünden drücken ihn nieder/ als eine Last / daß er zur Erden sincket. Er krümmet und windet sich vor Gott/ als ein Wurm/ ist willig und bereit/ sich gern zertreten zu lassen. Er thut vor Gott/ seinem himmlischen Vater/ den tieffsten Fußfall/ als der Mittler zwischen Gott und Menschen/ daß er uns mit Gott möchte aussöhnen. Hätte der Heiland diesen Niederfall nicht gethan/ so hätte uns nimmer die Gnaden-Hand Gottes auff- und angenommen.8
Es nennet der Heyland sein Leyden einen Kelch. In diesen Kelch hat ihm Gott eingeschencket den Grimm seines Zorns/ die Bitterkeit des Todes/ die Gall und Angst der Höllen. Mein Hertz/ das Creutz ist auch ein Kelch. Aber nicht hat dir Gott darein geschenckt Gifft/ sondern lauter Heyl und Artzeney; nicht den Todt/ sondern das Leben. David erkennts/ wann er sagt: Ich will den heilsamen Kelch nehmen/ Ps.116/ 13 ... Dein Jesus hat den ersten Trunck aus dem Creutz-Kelch gethan/ damit Er von seinen Lippen liesse hinein trieffen die Honig-Tröpflein seiner süssen Liebe/ daß die Bitterkeit des Creutz-Kelches versüsset werde. Ein Kelch ist dein Creutz. Ein Kelch hat ja einen Grund und Boden...9
Bachs Textdichter Picander formuliert, und die Beziehungen zu der Passionspredigt Heinrich Müllers sind unverkennbar:
Rezitativ (Baß)
Der Heiland fällt vor seinem Vater nieder;
Dadurch erhebt er mich und alle
Von unserm Falle
Hinauf zu Gottes Gnade wieder.
Er ist bereit,
Den Kelch, des Todes Bitterkeit
Zu trinken,
In welchen Sünden dieser Welt
Gegossen sind und hässlich stinken,
Weil es dem lieben Gott gefällt.10
Aria (Baß)
Gerne will ich mich bequemen,
Kreuz und Becher anzunehmen,
Trink ich doch dem Heiland nach.
Denn sein Mund,
Der mit Milch und Honig fließet,
Hat den Grund
Und des Leidens herbe Schmach
Durch den ersten Trunk versüßet.11
Günter Jena hat auf eine textliche und musikalische Besonderheit in der Arienkomposition hingewiesen12:
Bach verteilt den Text der Arie folgendermaßen:
Gerne will ich mich bequemen
Kreuz und Becher anzunehmen
Trink ich doch dem Heiland nach
Trink ich doch dem Heiland nach
Kreuz und Becher anzunehmen
Will ich gerne mich bequemen
Aus der Anordnung der Textzeilen im Verlauf des ersten Teils der Arie ergibt sich somit ein griechisches Chi, in der Bachschen Noten- und Tonsprache das Zeichen des Kreuzes: Nachfolge ist für Bach Kreuzes-Nachfolge. Grundsätzliches zur Auslegung des Bibeltextes wird hier deutlich:
- Der Evangelist Matthäus deutet das Kelchwort Jesu von seinem biblischtheologischen Hintergrund her, besonders in der Rede vom „Taumelbecher“ und dem „Zornesbecher“ Gottes.13 (Vgl. Jes.51,17)
- Heinrich Müller greift diese Deutung des Evangelisten Matthäus auf und führt sie weiter. Dem Kelch des Zorns entspricht den „Fußfall“ Christi. Diesen deutet er soteriologisch: Der Fußfall Christi ist die unabdingbare Voraussetzung für unsere Versöhnung. Im Bild des Kelchs gesprochen: Von Christi Lippen träufeln Honig-Tröpflein in den bittren Kelch. Müller erinnert an Psalm 116,13, wo vom „Kelch des Heils“ die Rede ist – eine unüberhörbare Anspielung auf das Abendmahl Jesu und das Abendmahl der Gemeinde.
- Picander folgt auf der ganzen Linie der Auslegung Heinrich Müllers. Er präzisiert das Verhältnis von Christi Fall und unserer Erhebung. Er verschärft die Aussage, indem er von dem Kelch spricht als dem Kelch, in den die Sünden der Welt gegossen sind „und häßlich stinken“ – eine Steigerung gegenüber Müllers Predigt und wohl ein Hinweis auf die Weinhefe, die zurückbleibt, wenn der Wein nicht richtig abgegossen wird.
- Entscheidend ist bei Picander, dass die vergangene Geschichte Jesu in Gethsemane unmittelbar mit dem gegenwärtigen Lebensvollzug der Christen in Verbindung gebracht wird. Das Trinken des Kelchs – symbolische Sprache im Wort Jesu selbst und in der Deutung wird offen für das Leben der Nachfolge, zumal kein Christ den Kelch so trinken muss, wie Jesus ihn getrunken hat.
- Indem Bach den Teil A der Arie in eine chiastische Form bringt, unterstreicht er, dass die Nachfolge Christi Kreuzesnachfolge ist. Die Auslegung führt unmittelbar zur Anwendung. Die bildreiche Sprache der Bibel und der barocken Auslegung erleichtert diesen Schritt auf der Textebene und auf der Ebene der Musik.
Wie sehr dieses Bild im Kelchwort Jesu in Gethsemane über die Matthäuspassion hinaus nachgewirkt hat, ist in der dritten Strophe des Sylvestergedichtes (1944/1945) von Dietrich Bonhoeffer nachzuspüren:
Und reichst du (Gott) uns den schweren Kelch, den bittern
des Leids gefüllt bis an den höchsten Rand,
so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
aus deiner guten und geliebten Hand.14
III. Die Tochter Zion – Passion und Brautlied
Eine Passionsmusik ist eine Vertonung des Bibeltextes vom Leiden und Sterben unter besonderer Berücksichtigung der in diesem Geschehen beteiligten Personen: Jesus und seine Jünger, die Frau mit dem Salbgefäß, der Hohepriester, Pilatus, seine Frau, das Hinrichtungskommando, der Verbrecher am Kreuz und der römische Hauptmann, der sich im Text des Matthäusevangeliums zum Gekreuzigten als dem Messias bekennt. Die Rollen und ihre unterschiedliche musikalische Darstellung als Soliloquenten oder Chor machen die Passionsmusik farbig.
Je mehr sich die italienische Oper mit ihren Formen von Rezitativ und Aria auch in Nordeuropa durchsetzt, finden solche betrachtenden Text- und Musikpassagen auch Eingang in die gottesdienstlichen und konzertanten Passionsmusiken für die Karwoche und besonders den Karfreitag. Text und Auslegung, Bericht und Kommentar verstärken die emotionale Wirkung der Passion, zumal die Gefühle, die im Secco-Rezitativ des Evangelienberichtes noch gezähmt bleiben, sich im Recitativo accompagnato und in der Aria und allen möglichen Mischformen ausleben können. Bei Händel, Mattheson, Stölzel, Graun und Telemann – um nur einige zu nennen – ist das nur zu deutlich hörbar.15
Nun reichen vielen Passionskomponisten und Passionslibrettisten des 18. Jahrhunderts die biblischen Rollen und ihre anonymen Kommentare allein nicht aus. Bereits im 17. Jahrhundert findet die „Tochter Zion“ ihren Platz in den dramatischen Passionsmusiken der norddeutschen evangelisch-lutherischen Kirchen. Die „Tochter Zion“ ist aus dem Buch des Propheten Sacharja Kap.9, 9-11 bekannt. Bei Sacharja heißt es:
„Du, Tochter Zion, freue dich sehr! und du, Tochter Jerusalem, jauchze!: Siehe dein König kommt zu dir: ein Gerechter und ein Helfer. Arm ist er und er reitet auf einem Esel, dem Füllen der lastbaren Eselin.“16
Es ist deutlich, dass Sacharja mit der „Tochter Zion“ das Volk Israel meint, das auf seinen Messias wartet. Bachs Textdichter Picander bringt diese Figur der Tochter Zion, die so beim Propheten Sacharja erscheint, mit den Texten des Hoheliedes Salomo in Verbindung. Schon im Alten Israel wurde die Sammlung der Liebeslieder, die unter dem Titel „Hoheslied Salomo“ – hebräisch „Lied der Lieder“17 herausgegeben und in die Sammlung der biblischen Schriften aufgenommen worden ist, auf das Liebesverhältnis Gottes zu seinem Volk gedeutet worden.
Vor allem die christliche Mystik des Mittelalters18 hat das Hohelied auf die Beziehung Christi zu seiner Gemeinde gedeutet: Christus, der Bräutigam, die Gemeinde die Braut. Christus der Liebende, die Gemeinde die Geliebte. In der mystischen Vereinigung, der Unio Mystica verschmelzen Christus und die Seele, werden eins, und damit kommt die Seele zu ihrem endgültigen Ziel auf ihrer Wanderschaft. In Martin Luthers Freiheitsschrift klingt diese Theologie der mystischen Erfahrung an, wenn Luther von der Vermählung der Seele mit Christus ihrem Bräutigam schreibt.19
In lutherischer Theologie hat die mystische Frömmigkeit durchaus ihren Ort. Sie durchzieht das Werk der Theologen Johann Arndt und Johann Gerhardt. Besonders geprägt sind die Lieder „Wachet auf, ruft uns die Stimme“20 und „Wie schön leuchtet der Morgenstern“21 von Philipp Nicolai, die ihrerseits lutherische Frömmigkeit nachhaltig bestimmt haben.
Schon im Mittelalter, etwa bei Bernhard von Clairvaux22 verbindet sich diese mystische Theologie mit einer ausgeprägten Passionsfrömmigkeit, die sich sehr am Leiden und konkret an den Wunden Jesu orientiert. Angelehnt an Passionspredigten des Bernhard von Clairvaux ist die lateinisches Vorlage des Liedes „O Haupt voll Blut und Wunden“23 formuliert. Dieser Choral ist in Bachs Matthäuspassion besonders hervorgehoben und strukturiert die Deutung des Passionsgeschehens aus der Sicht der glaubenden Gemeinde. Allein siebenmal in jeweils anderer harmonischer Verkleidung an den unterschiedlichen Stationen des Passionsberichtes erscheint dieser Choral auf die Melodie „Herzlich tut mich verlangen“24 von Hans Leo Hassler.
Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen
Sehet: Wen?
Den Bräutigam!
Seht ihn: Wie?
Als wie en Lamm!
O Lamm Gottes unschuldig
Am Stamm des Kreuzes geschlachtet
Sehet: Was?
Seht die Geduld!
Allzeit erfunden geduldig
Wiewohl du warest verachtet
Seht: Wohin?
Auf unsere Schuld!
All Sünd hast du getragen
Sonst müßten wir verzagen
Sehet ihn aus Lieb und Huld
Holz zum Kreuze selber tragen
Erbarm dich unser, o Jesu.
So ist die Doppelchörigkeit also bereits im Entwurf des Passionslibrettos angelegt. Im Eingangschor wird das deutlich: Frage und Antwort, stark verwurzelt in der mystisch gefärbten Anlehnung an das Hohelied Salomonis, dazu die zugleich deutende und bekennende Choralstrophe „O Lamm Gottes unschuldig“. So spielt das Geschehen mindestens auf zwei, wenn nicht drei Ebenen zugleich. Die eine ist die Ebene der Zuschauer, die Bach in zwei Gruppen teilt. Jeder Chor hat sein eigenes, vollständiges Orchester. Das Wechselspiel steigert die Dramatik und eröffnet grandiose Möglichkeiten der musikalischen Gestaltung und Wirkung. Die andere Ebene – wie schon gesagt, die Ebene der Teilnehme und der Deutung, die hier im Eingangsteil im Choralzitat erkennbar wird.
Die Matthäuspassion Bachs ist keine Rezitation, kein Bericht – sie ist es auch, aber schon in der musikalischen Gestaltung des Berichtes in den Secco-Rezitativen und den Turbae tritt die Deutung des Geschehens zutage. Man kann nicht berichten, ohne zu deuten und die musikalischen und poetischen Formen, die der Deutung vorbehalten sind25: Recitativo accompagnato, Arioso, Arie und Choral, erweitern die Deutungsmöglichkeiten, indem sie den musikalischen Ausdruck intensivieren.
Die Doppelchörigkeit durchzieht die gesamte Passion. Chor und Orchester sind aufgeteilt und vereinen sich zu den Choralstrophen wieder. Renate und Lothar Steiger haben auf die Theologische Bedeutung der Doppelchörigkeit in Bachs Matthäuspassion hingewiesen.26 Die Auslegung der biblischen Geschichte geschieht im Dialog von Text und Gemeinde, von Text und einzelnen Christen. Eine inhaltliche Zuordnung von Personen oder Themen zu einem der beiden Chören ist durchgängig nicht erkennbar. Sowohl Picander als auch Bach scheinen vornehmlich an den erweiterten formalen musikalischen Möglichkeiten interessiert, die sich mit der Doppel- oder sogar Drei-Chörigkeit im Eingangschor ergeben.27
IV. Die Tochter Zion und ihr mißratener Sohn
Die Tochter Zion ist in dieses Wechselspiel eingefügt. In einer ergreifenden Arie beklagt die Mutter, in diesem Fall: die Tochter Zion, den Verrat des Judas beklagt. Sie tut dies wieder mit dem Rückgriff auf alte biblische Bilder: Das Kind wird zur Schlange. Etwas anderes als Seufzen bleibt der zutiefst verzweifelten Mutter nicht, bis sie am Schluss der Arie zu einer wütenden Conclusio kommt: „denn es ist zur Schlange worden!“
Arie - Sopran
Blute nur du liebes Herz
Ach ein Kind, das du erzogen
Das an deiner Brust gesogen
Droht den Pfleger zu ermorden
Denn es ist zur Schlange worden.
Judas ist ein Kind der Tochter Zion. Er ist eine wirklich spannende Passion der Passionsgeschichte. Für viele ist er „der Jude“, und das Bild des christlichen Antijudaismus ist von der Person des Judas unheilvoll geprägt. Andere fragen: Was wird aus Judas nach seinem Selbstmord. Ist er verloren, im innersten Höllenkreis, wie Dante28 ihn sieht, oder gibt es eine Chance für Judas Ischarioth?
Bach und Picander geben ihre Antwort. Natürlich: Judas ist zur Schlange geworden – kein Zweifel. Wer seinen Gott verrät, der hat sich offen gegen ihn gestellt. Wütend bricht der Chor am Ende des 1.Teils in die Verfluchung des Judas aus:
Chor
Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden?
Eröffne den feurigen Abgrund, o Hölle,
verderbe, verschlinge,
zerreiße, zerschelle
mit plötzlicher Wut
den falschen Verräter, das mördrische Blut!
Im 2. Teil nimmt die Beurteilung des Judas eine entscheidende Wendung: Der Fluch gegen Judas ist vergessen. Jetzt ist Judas der verlorene Sohn. Eine biblische Anspielung, die alles andere als zufällig ist. Der verlorene Sohn findet zurück zum Vater, und der nimmt ihn wieder bei sich auf – trotz allem, was gewesen ist. Das ist „gute Nachricht für Judas Ischarioth“.29
Arie - Bass
Gebt mir meinen Jesum wieder
Seht, das Geld, den Mörderlohn
Wirft euch der verlorne Sohn
Zu den Füßen nieder
Noch einmal kommt die Tochter Zion zu Wort. Das Geschehen nimmt erbarmungslos seinen Lauf. Der Verrat des Judas war der äußere Grund der Passion – der innere Grund der Leidensgeschichte Jesu liegt viel tiefer – letztlich im Herzen Gottes selbst. Aber auch, als der äußere Grund wegfällt, indem Judas seinen Verräterlohn zurückgibt, nimmt die Leidensgeschichte unerbittlich ihren Lauf. Die Tochter Zion versucht, diesem Geschehen noch in den Arm zu fallen. Gebt mir meinen Jesum wieder! Die virtuose Violinstimme unterstreicht das dringende und drängende der Tochter Zion, beginnend mit dem großen Oktavsprung abwärts hat diese Violinstimme etwas atemloses. Es ist wie ein mächtiges, aber letztlich dennoch vergebliches Anrennen gegen die Hartherzigkeit der Welt, die ihren Gott opfert, indem sie Jesus ans Kreuz schlägt.
V. Die Passion Christi und das Leiden der Welt
Die Bilder der Katastrophe von Nordwest-Japan sind uns vor Augen [März 2011]. Wir haben zugeschaut, wie die gewaltige Welle den Tod hinter sich herzog und alles überrollte, was sich ihm entgegenstellte. Und noch mehr: Erst das Beben, dann die Flut, und dann, als sei das alles noch nicht genug: die unsichtbare Strahlung, hinterhältig und heimtückisch aber umso nichts weniger tödlich und vernichtend als die ersten beiden Katastrophen, nur viel, viel gefährlicher und lang anhaltender.
Kann man angesichts dieser Katastrophen überhaupt singen? Kann man angesichts dieser Massenkatastrophen noch das Leiden und den Tod des einen Menschen vor 2000 Jahren musikalisch zu reflektieren und Jahr für Jahr dieses musikalische Schauspiel wieder aufzuführen? Ist die Wiederholung der barocken Leidensmusik nicht eine Flucht aus der Wirklichkeit, eine Untreue dem Diesseits gegenüber. Ob man nach Auschwitz noch Gedichte schreiben könne, hat der Philosoph Theodor W. Adorno gefragt – und diese Frage betrifft die Aufführung der Matthäuspassion umso mehr.
Der Theologe Karl Barth schreibt in seiner Kirchlichen Dogmatik (IV/2)
Was hierzu zu sagen ist, mag beiläufig auch als Widerspruch gegen die Auffassung der Leidensgeschichte verstanden werden, die in J.S.Bachs „Matthäuspassion“ ihren klassischen Ausdruck gefunden hat. Über ihre rein musikalische Größe ist kein Wort zu verlieren. Sie will aber eine Auslegung der Kap. 26 – 27 des Matthäusevangeliums sein. Als solche kann sie ihren Hörer nur irreführen. Sie ist ein einziges, in fast ununterbrochenem Moll gewiß wunderbar wogendes Wolkenmeer von Seufzern, Klagen und Anklagen, von Ausrufen des Entsetzens, des Bedauerns, des Mitleidens: eine Trauerode, die in einem regelrechten Grabgesang („Ruhe sanft!“) ihren Ausklang findet, die durch die Osterbotschaft weder bestimmt, doch auch nur begrenzt ist, in der Jesus, der Sieger völlig stumm bleibt. Wann wird die Kirche sich darüber klar werden, und dann auch die Tausende und Tausende, die die evangelische Leidensgeschichte ausgerechnet nur in dieser Version kennen mögen, darauf aufmerksam machen, dass es sich in ihr um eine Abstraktion handelt, dass das bestimmt nicht die Passion Jesu Christi ist?30
Es gibt nicht nur eine moralische Kritik an der musikalischen Aufführung der Leidensgeschichte Christi. Es gibt auch eine theologische Kritik, die immerhin gehört sein will.
Damit wir es nicht vergessen: In Bachs Matthäuspassion und ihren Texten geht es um die letzten Tage im Leben des Jesus von Nazareth. Es geht um Verrat und Verlassenheit, es geht um Verhaftung und Verhör, um Folter, Hinrichtung und Begräbnis. Es ist eine unappetitliche Geschichte. Keine Geschichte, die man Kindern erzählen möchte. Vom Kreuz spricht man nicht – sagen die vornehmen Römer. Und wenn die Soldaten jemanden zum Teufel wünschen, dann sagen sie „i ad crucem!“ – geh zum Kreuz. Kreuz ist Pornographie in der antiken Literatur. Vom Kreuz schreibt man auch nicht. Die neutestamentlichen Passionsberichte sind die ausführlichsten Kreuzesschilderungen, die es in der antiken Literatur überhaupt gibt.31
Natürlich kann man diese Geschichte nicht in Musik setzen, genau so wenig, wie man sie in Worte fassen kann. Es käme ein Schrei dabei heraus, ein Wimmern vielleicht, ein wortloses Schweigen. Die Matthäuspassion ist nicht das Leiden Christi. Die Matthäuspassion ist eine ästhetisch geformte Weise, nach dem Leiden Christi und seiner Bedeutung für die glaubende Gemeinde und die gläubige Seele zu fragen. Sie ist Auslegung und Verkündigung, wie eine gute Predigt auch Auslegung und Verkündigung ist. Sie richtet sich dabei nicht nur an das vernünftige Fassungsvermögen der Menschen, sie richtet sich auch an ihr Herz, an ihre Emotionen. Die Verkündigung, die sie leistet, ist weder besser noch schlechter als andere Verkündigung – sie ist anders. Und darin hat sie ihre Würde und ihre Bedeutung.
Es stimmt, dass in Bachs Matthäuspassion – ganz anders als in seiner älteren Johannespassion der Blick auf Ostern eher verhangen ist. Vorherrschend ist die teilnehmende Trauer, die „Compassio“ – das begleitende Mit-Leiden. Vorherrschend ist der düstere Ton des Leidens. Auch die Choräle vermitteln nur wenig Lichtblicke. Lediglich das Jesus-Wort „Wenn ich aber auferstehe, will ich vor euch hingehen nach Galiläa“ (Matthäus 26, 32) weist über Tod und Grab hinaus auf die gemeinsame Zukunft Jesu und seiner Jünger nach Ostern.
Nicht zu vergessen ist auch das Bekenntnis des Hauptmanns des Hinrichtungskommandos. Anders als bei den anderen Äußerungen der unterschiedlichen Personen in der Johannespassion, lässt Bach seinen Part vom ganzen Chor singen. In der musikalischen Sprache Bachs mag das wie die Ostersonne sein, die das schreckliche Geschehen am Kreuz in ein neues, unerkanntes Licht taucht. Aber der Hauptmann aber und die bei ihm waren und bewahreten Jesum, da sie sahen das Erdbeben und was da geschah, erschraken sie sehr und sprachen: Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen.
Karl Barths theologische Sachkritik ist dennoch nicht ganz von der Hand zu weisen. Für Bach selbst war klar, dass die Matthäuspassion im Rahmen eines Karfreitags-Nachmittagsgottesdienstes aufgeführt wurde. Und der Gottesdienst wendet sich in seinen Gebeten und Texten an den Auferstandenen Herrn, auch wenn das ausdrückliche Thema dieses Gottesdienstes die Leidensgeschichte Jesu ist. Diesen Kontext haben wir für die Matthäuspassion nicht, und es ist aus den verschiedensten Gründen nur schwer vorstellbar, das dieses Werk wieder seinen Platz im Gottesdienst finden könnte.
Wir können nur darauf achten, dass wir Karfreitag und Ostern zusammensehen. Der Gekreuzigte ist von den Toten auferweckt und der Auferweckte kein anderer als der vorher Gekreuzigte. Die Johannespassion ist in dieser Beziehung deutlicher. Ob und wie man im Zuge einer Aufführung der Matthäuspassion darauf hinweisen kann, dass der Karfreitag überhaupt nur von Ostern her in den Blick zu nehmen ist.
VI. An Gott zweifeln – an Bach glauben?
„Es mag sein, dass nicht alle Musiker an Gott glauben; an Bach jedoch alle“33, sagt der ver- storbene deutsch-argentinische Komponist Mauricio Kagel (1931-2008). Dahinter verbirgt sich die einfache Frage: Ist nicht die Musik Bachs von ihren Texten ablösbar? Wäre es nicht denkbar, dass ein genialer Librettist den geistlichen Text der Matthäuspassion durch einen „weltlichen“ Text ersetzt? Solche Versuche hat es gegeben. In der Nazi-Zeit gab es die Versuche, die jüdischen Inhalte der Oratorien Georg Friedrich Händels in „arische“ umzuwandeln, um sie so in Nazi-Deutschland aufführbar zu machen.34 Zu DDR-Zeiten gab es Versuche, Bachsche Kirchenmusik entsprechend weltlich zu deuten, um sie dem dialektischen Materialismus einverleiben zu können und seine Aufführungen auch für das atheistische neue Deutschland zu retten.35
Kagels eigene Antwort war eine „Sankt Bach Passion“ zum 300. Geburtstag Johann Sebastian Bachs. Der Komponist Bach wird zum Gegenstand und Inhalt einer neuen Musik, die sich ganz von ihrem geistlichen Hintergrund getrennt hat. In einer Arie zu Beginn heißt es:
Dir, dir Sebastian will ich singen,
denn wo ist solch ein Bach wie du
dir will ich meine Lieder singen
ach gib mir deines Geistes Kraft dazu
Verleih mir, Höchster, solche Güte,
So wird gewiß mein Singen recht getan;
Und so hebt dein Geist mein Herz zu dir empor,
Daß ich dir Psalmen sing´ im höh´ren Chor. 36
Ist also die Musik die Konstante und der Text die Variable? Ist die Musik auch ohne den Text? Da die Bachsche Musik sehr von der Textentsprechung und der Textausdeutung lebt, wäre eine vollständige Ersetzung des Textes durch weltliche Inhalte nicht unmöglich, aber sehr schwer vorstellbar. Das sogenannte „Parodieverfahren“ indem Bach ursprünglich weltliche Musik in geistliche Werke übernommen und mit entsprechendem Text versehen hat, ist besonders dort gelungen, wo der geistliche und der weltliche Textdichter – in diesem Fall Picander ein und derselbe waren.
Wir können die Matthäuspassion nur als die Einheit von Text und Musik begreifen. Auch wenn der Text uns manchmal fremd erscheint und abständig, wenn wir Textpassagen als barock überladen und manchmal hart an der Grenze des Guten Geschmacks gelegen empfinden. Aber: Texte kann man zu verstehen suchen, man kann sich auf ihre Spur begeben, ihre Welt erschließen, ihre Umgebung plausibel machen. Und das werden wir auch immer wider tun, so gut es geht, zumal die Bach-Zeit in immer entfernteren Vergangenheiten versinkt und der Zugang zu dieser Zeit von Generation zu Generation mühsamer wird.
Natürlich haben wir dieses Musikwerk nicht für uns und die Kirche gepachtet. Bachs Musik gehört der Kirche genau so wenig, wie die Bibel der Kirche gehört. Bachs Matthäuspassion ist jedermann zugänglich, und jeder kann sie aufführen, der sie aufführen kann. Und andere führen sie auf in ganz unterschiedlichen Formen und Zusammenhängen. John Neumeier hat uns vor Jahren die Matthäuspassion als großartiges Ballett gezeigt.37 Andere versuchen szenische Darstellungen, Multi-Media Geschichten und anderes.
Wir sind vor allem für das verantwortlich, was wir tun. Wir sind für unsere Kirche und ihre Musik verantwortlich. Und wir haben zu entscheiden, wie wir mit der Musik und ihrer Botschaft umgehen, wie wir unsere Kirchenräume mit der Musik füllen – mich hat immer sehr beeindruckt, wenn Peter Schreyer die Evangelistenpartie von der Kanzel aus sang - wie wir unsere Aufführungen theologisch begleiten, wie wir Deutungshilfen anbieten. Hier ist eine Zusammenarbeit von Kirchenmusikerinnen und Theologinnen unumgänglich, wenn die große Kirchenmusik in dem Event an sich aufgehen soll.
Musizieren ist Arbeit, Zuhören ist auch Arbeit, genau wie das Verstehen. Wir erleben es, wie diese alte Musik gegenwärtige Menschen rührt, Menschen, die der Kirche und ihrer Botschaft längst entwöhnt sind. Ich weiß nicht, ob das die große misionarische Gelegenheit ist, Bachs Passionen aufzuführen. Es ist jedenfalls eine Gelegenheit zu sorgfältiger Arbeit an der Musik, am Text, und am Verstehen, damit die Passion dann auch das Ihre singen und sagen kann. Das tut sie offensichtlich hier und da, selbst dort, wo man es am allerwenigsten erwartet. Friedrich Nietzsche schreibt an Erwin Rohde am 30. April 1870:
"In dieser Woche habe ich dreimal die Matthäuspassion gehört, jedesmal mit demselben Gefühl der unermesslichen Verwunderung. Wer das Christentum völlig verlernt hat, der hört es hier wirklich wie ein Evangelium."38
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1. Carl Friedrich Zelter – Johann Wolfgang Goethe, Briefwechsel, eine Auswahl, hg. von Hans Günther Ottenberg, Leipzig 1987, S.322.
2. Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784) In: Immanuel Kant, Was ist Aufklärung? Aufsätze zur Geschichte und Philosophie, hg. von Jürgen Zehbe, Göttingen 1967. S.55-61.
3. Ebd.
4. Christian Fürchtegott Gellert, EG 506,1.
5. Paul Flossmann, Picander: Christian Friedrich Henrici, Leipzig 1899.
6. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus II, S. geht davon aus, dass Matthäus selbst hier nicht an den Zornesbecher Gottes denkt, sondern an den Kelch des Heils aus Psalm 116.
7. Elke Axmacher, “Aus Liebe will mein Heyland sterben”, Untersuchungen zum Wandel des Passionsverständnisses im fühen 18. Jahrhundert, Beiträge zur theologischen Bachforschung, hg. Von Walter Blankenburg und Renate Steiger, Band 2, Neuhausen-Stuttgart 1984.
8. Heinrich Müller, Evangelisches Praeservativ wider den Schaden Josephs, in allen dreyen Ständen, Franckfurt 1681. S.240. Zit. Bei Axmacher aaO. S.173.
9. Ebd. S.243. Zit. Bei Axmacher aaO. S.174.
10. BWV 244, 22.
11. BWV 244, 23.
12. Günter Jena, Das gehet meiner Seele nah, Bachs Matthäuspassion, Erfahrungen und Gedanken eines Dirigenten, München, Zürich 1993, S. 179f.
13. Ulrich Luz, EKK Matthäus (II) S. geht allerdings davon aus, dass Matthäus sich mit seinem Kelchwort auf Psalm 116 und nicht auf den Taumelbecher bezieht.
14. Dietrich Bonhoeffer, Von guten Mächten wunderbar geborgen” in: Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft hg. Von Eberhard Bethge, Neuausgabe, München 1977, S.435f.
15. Das Libretto des Hamburger Ratsherren Johann Hinrich Brockes “Der für das Heil der Welt leidende und sterbende Jesus” (1712) ist in den 1. Hälfte des 18.Jahrhunderts mehrfach auf hohem Niveau vertont worden. Die bekanntesten “Brockes Passionen” sind die von Reinhard Keiser (1712) Georg Friedrich Händel (1716), Johann Heinrich Stölzel (1725), Georg Philipp Telemann (1719), Johann Mattheson (1718), Johann Friedrich Fasch (1717-1719). Vgl. Mags Marx-Weber Art. Barthold Hinrich Brockes in: MGG2, Personenteil, Band 3, Sp.958-961. Kassel, Basel, London, New York, Prag, Stuttgart, Weimar, 2000.
16. Sacharja 9,9-11
17. Schir ha Schirim.
18. Vgl. etwa die Schriften Meister Eckhardts, Mechthild von Magdeburgs, Gertrud von Helftas etc.
19. Martin Luther Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520) in: Martin Luther, gesammelte Werke hg. Von Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling, Band 2, S.258. “So wird die |Seele von allen ihren Sünden nur durch ihre Verlobungsgabe,6 das ist des Glaubens halber, ledig und frei und mit der ewigen Gerechtigkeit ihres Bräutgams Christi begabt. Ist nun das nicht ein fröhlicher Hausstand, da der reiche, edle, fromme Bräutigam Christus das arme, verachtete, böse Hürlein zur Ehe nimmt und sie von allem Übel frei macht sie mit allen Gütern zieret? So ists nicht möglich, daß die Sünden sie verdammen, denn sie liegen nun auf Christus und sind in ihm veschlungen. So hat sie so eine reiche Gerechtigkeit in ihrem Bräutigam, daß sie abermals wider alle Sünden bestehen kann, ob sie schon auf ihr lägen. Davon sagt Paulus 1. Kor. 15, 55 ff.: »Gott sei Dank, der uns eine solche Überwindung in Christus Jesus gegeben hat, in welcher der Tod mit der Sünde verschlungen ist.«
20. EG 147, Philipp Nicolai 1599, „Freudenspiegel des ewigen Lebens“
21. EG 70, Philipp Nicolai 1599, „Freudenspiegel des ewigen Lebens“
22. 1090-1153. Zisterziensermönch, Kreuzzugsprediger und Mystiker in Frankreich.
23. EG 85 (1656) – Salve caput cruentatumdesArnulf von Löwen vor 1250.
24. EG 85.
25. “Aus dem allen lernen wir, daß es nicht genug gepredigt sei, wenn man Christi Leben und Werk obenhinund nur als eine Historie und Chronikengeschichte predigt, geschweige denn, so man seiner ganz schweigt und das geistliche Recht oder andere Menschengesetze und - lehren predigt. Ihrer sind auch viele, die Christus so predigen und lesen, daß sie ein Mitleid über ihn zum Ausdruck bringen, mit den Juden zürnen oder sonst mehr kindische Weise darinnen üben. Aber er soll und muß so gepredigt sein, daß mir und dir der Glaube draus erwachse und erhalten werde. Dieser Glaube erwächst dadurch und wird erhalten, wenn mir gesagt wird, warum Christus gekommen sei, wie man seiner ge-brauchen und genießen soll, was er mir gebracht und gegeben hat. Das geschieht, wo man die christliche Freiheit recht auslegt, die wir von ihm haben, und wie wir Könige und Priester sind, aller Dinge mächtig, und daß alles, was wir tun, vor Gottes Augen ange-nehm und erhöret sei, wie ich bisher gesagt habe." Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen“ aaO. S. 262f.
26. Die Bedeutung der Doppelchörigkeit in Bachs Matthäuspassion, in: Festschrift Alfred Dürr aaO. S. 275-286. “Wir gehen für unsere Interpretation von der Arbeitshypothese aus, daß die doppelchörige Anlage der Matthäus-Passion mit der dialogischen Struktur einiger Sätze ihres Librettos zusammenhängt. Das sind diejenigen Sätze, die Picander der Tochter Zion und ihren Gläubigen in den Mund legt.” S.277.
27. Günter Jena, aaO. S.40f. “Eine gedankliche Zuordnung der Passionsgestalten zu den beiden musikalischen Ensembles ist also nicht zu erkennen und sicher nicht beabsichtigt.” S.41.
28. Groß, angemessen solchem Vogel, standen
Zwei Flügel unter jedem weit heraus,
Die wir den Segeln gleich, nur größer fanden,
Und federlos, wie die der Fledermaus.
Sie flatterten ohn’ Unterlaß und gossen
Drei Winde nach verschiedner Richtung aus.
Dadurch ward der Cocyt mit Eis verschlossen.
Sechs Augen waren nie von Thränen frei,
Die auf drei Kinn’ in blut’gem Geifer flossen.
Und einen armen Sünder malmt’ entzwei
Und kaute jeder Mund, daher zerbissen,
Flachsbrechen gleich, die scharfen Zähne ihrer drei.
Der vordre Mund schien sanft in seinen Bissen,
Verglichen mit den scharfen Klau’n, zu fein,
Die oft die Haut vom Fleisch des Sünders rissen.
Da sprach Virgil: „Sieh hier die größte Pein!
Ischarioths Kopf steckt zwischen scharfen Fängen,
Und außen zappelt er mit Arm und Bein.
Zwei Andre sieh den Kopf nach unten hängen; ...
Dante Alligheri, Die Göttliche Komödie, 195, 46-64.
29. Helmut Gollwitzer, Krummes Holz, aufrechter Gang, zur Frage nach dem Sinn des Lebens, München 1970, Kap. VIII.
30. Karl Barth, die kirchliche Dogmatik, Band IV/2, Zürich 1955, aaO. S.280.
31. Martin Hengel, Mors turpissima crucis, Die Kreuzigung in der antiken Welt und die “Torheit” des “Wortes vom Kreuz”, in: Rechtfertigung und Recht, Festschrift für Ernst Käsemann zum 70. Geburtstag, Hg. Von Johannes Friedrich, Wolfgang Pöhlmann, Peter Stuhlmacher, Tübingen /Göttingen 1976, S. 125-184. Der Film “Drei Tage im April” (Oliver Storz, Deutschland, 1994) erzählt von einem Transport von Zwangsarbeitern, der bei Kriegsende in einem schwäbischen Dorf abgestellt udn bewacht wird. Niemand ist zuständig für die Versorgung dieser Menschen. Letztlich unternimmt es die BDM-Führerin des Dorfes, sich um diese Menschen im Güterwagen zu kümmern. Ein vergebliches Unternehmen. Während dieser Zug gezeigt wird, erklingt die Arie “Erbarme dich, mein Gott” aus der Matthäuspassion. Besser kann man diese Situation gar nicht deuten als mit dieser Musik, die auf die Passion Christi verweist.
33. Mauricio Kagel , Worte über Musik, Gespräche, Reden, Aufsätze, Hörspiele, München 1991. S.195.
34. Christopher Hogwood, Georg Friedrich Händel, mit einer Zeittafel von Anthony Hicks, aus dem Englischen von Bettina Obrecht, Stuttgart, Weimar 1992. S.337-344.
35. So etwa der Umgang der offiziellen „Bach-Forschung“ in der DDR. Charakteristisch ist, was Werner Felix in seinem Bildband über Johann Sebastian Bach über die Matthäuspassion schreibt: „Der geistliche Stoff ist, wie wohl immer bei großen Werken religiöser Prägung, als ein menschliches oder gesellschaftliches Gleichnis zu verstehen: die Leiden des Jesus stehen für die Leiden der Menschheit und jeder Einzelne findet wenigstens einen Teil eigener Erfahrungen im Leiden und seiner notwendigen Überwindung in der Aussage des Werkes aufgehoben.“ Werner Felix, Johann Sebastian Bach, Leipzig 1984, S.140. Ähnlich auch Walter Siegmund-Schulze aaO. S.126. „Bach hat es in diesem Werke (der Matthäuspassion M.F.) vermocht, die Leiden, Leidenschaften, Sehnsüchte und Hoffnungen seiner Zeit auf ein menschenwürdiges Leben, ein Bild eines heroischen, für die Verbesserung des Zusammenlebens kämpfenden Menschen, einer für Gerechtigkeit und das Gute einstehenden Gesinnung in unerschöpflicher Größe und Mannigfaltigkeit zu zeichnen und zu kolorieren. Er hat damit ein Werk geschaffen, das zur Menschheitsgeschichte gehört wie Dantes „Göttliche Komödie“, wie Michelangelos Sixtinische Kapelle oder Goethes „Faust“.“ Und weiter heißt es S.128: „Das enge Verhältnis der Arbeiterklasse zu Bachs Kirchenmusik wurde erstmalig durch Karl Liebknechts Bekenntnis formuliert in einen Brief an seinen Sohn vom Jahre 1917 aus dem Zuchthaus Luckau: „Nichts Süßeres, Zarteres, Rührenderes und in den Volkszenen – nicht Großartigeres kennt die Musik.““ Vgl. Auch: Patrice Veith, Bach aaO. S.253ff. Ebenso: Wilfried Hoffmann, Johann Sebastian Bach, Chorsätze aus Kantaten, 2. Auflage, Leipzig 1986
36. Mauricio Kagel, Sankt Bach Passion (1985) in. Werner Klüppelholz, (Hg.) Kagel…/91, Köln 1991, S.388.
37. John Neumeier, Balett-Choreographie zur Matthäuspassion (Uraufführung am 25.6.1981, wiederaufgenommen zum deutschen Ev. Kirchentag 1995 in Hamburg.) Vgl. John Neumeier, Johann Sebastian Bach Matthäus-Passion, Photographien und Texte zum Ballett von John Neumeier, Hamburg 1983.
38. Brief an Erwin Rohde, 30. April 1870, KSB 3: 76
Domprediger Martin Filitz, Halle, März 2011
Vortrag von Martin Filitz zu Bachs Matthäus-Passion (2011).pdf