Liebe Schwestern und Brüder,
auf der Suche danach, zu verstehen, was Einheit bedeutet, was Einheit sein kann, was sie mit sich bringt und was sie verlangt sind mir zwei Aspekte besonders wichtig:
Der erste: Wenn wir von Einheit reden, dann reden wir gleichzeitig von Einzigartigkeit und Vielfalt.
Der zweite Aspekt: Wahrhafte Einheit hat eine Voraussetzung und eine Konsequenz: das ist Gerechtigkeit. Darüber möchte ich mit Ihnen jetzt nachdenken.
Beginnen wir mit einem Ton, (Orgelton zu hören), und setzen einen zweiten hinzu (Terz zu hören) und schließlich einen dritten (Quinte zu hören).
Lasst uns das, was Einheit sein kann, mit diesen Klängen verstehen, mit dem, was wir gerade gehört haben: mit einem Dreiklang. Wenn ich diesen Dreiklang übersetze in die Begriffe von Einheit, Einzigartigkeit und Vielfalt, dann höre ich, wie alles zusammengehört.
Zuerst der Grundton, der das Fundament legt, worauf alles andere aufbaut. Dieser Grundton ist die Einheit. (Ton)
Wenn die Terz dazukommt, hören wir volleren Klang, einen anderen als zuvor und wir hören mehr als zuvor. Jetzt ist Vielfalt ausgedrückt, das, was mehr und anders ist als alles bisherige. (Terz dazu)
Schließlich der dritte Ton: die Quinte. (Quinte dazu)
Sie bringt den Akkord zum Leuchten, sie erst gibt ihm seinen besonderen, lebendigen Klang, und zwar durch ihre Einzigartigkeit, ihre Besonderheit.
Jeder der drei Töne klingt zwar für sich allein, aber das wäre eher fade und langweilig. Er braucht die jeweils anderen, um zur Vollendung, um zur vollen Harmonie zu gelangen. Und wir nehmen wahr, was Einheit sein kann: ein vielstimmiges, klangvolles Zusammenspiel.
Wenn wir also von Einheit sprechen, dann ist dies immer eine Einheit, welche Einzigartigkeit und Vielfalt gleichermaßen achtet und schätzt;
tut sie es nicht, verkommt Einheit zur bloßen Uniformität oder Konformität.
Das heißt weiter: Einheit kann nur gelebt werden im Bewusstsein von lebendiger Beziehung, vom Aufeinander-Bezogensein und vom Gewiesen-Sein an den jeweils anderen.
In einem solchen Dialog verstehen sich die Beteiligten als Partner, die um ihre Verschiedenheit und ihre jeweilige Besonderheit wissen,
weil sie sich mit bzw. in den Augen des Gegenübers sehen:
Ich sehe, dass du du bist und anders bist als ich;
dein Anderssein lässt mich meine Einzigartigkeit wahrnehmen, und umgekehrt.
Einheit fördert und pflegt das individuell Besondere ebenso wie das kostbare Gesamte, weil das eine wie das andere Teil von ihr ist.
Das Gegenteil solch untrennbarer Zusammengehörigkeit beschreibt ein zärtlich-trauriges Liebesgedicht des österreichischen Lyrikers Erich Fried „Ohne dich“.
Da trauert einer über das Getrenntsein oder gar den endgültigen Abschied von der Geliebten. Und dieser Verlassene, dieser Einsame erlebt sich selbst jetzt als einen, der ohne das geliebte Gegenüber anders, vor allem aber weniger ist als zuvor.
Erich Fried, Ohne dich
Nicht nichts
ohne dich
aber nicht dasselbe
Nicht nichts
ohne dich
aber vielleicht weniger
Nicht nichts
aber weniger
und weniger
Vielleicht nicht nichts
ohne dich
aber nicht mehr viel
Was für die Liebesbeziehung gilt , das lässt sich auf unser Miteinander in Einheit, Einzigartigkeit und Vielfalt übertragen. Und wir merken, wie sehr wir einander nötig haben.
Einheit hat eine Voraussetzung und eine Konsequenz – und das ist Gerechtigkeit.
Einheit ist wesensmäßig Gerechtigkeit:
sie ehrt und achtet die, die Teil von ihr sind, in ihrer jeweiligen Einzigartigkeit und Vielfalt.
Gleichzeitig ist Gerechtigkeit ihre Konsequenz, nämlich als ein sichtbares, nachweisliches Resultat von Einheit. Wir leben als Kirche nicht für uns, sondern inmitten einer Welt, die sich nach Gerechtigkeit sehnt, täglich, stündlich, überall (Röm 8,18-22). Die Kirche ist Teil dieser Welt, in der niemand Gerechtigkeit für sich allein beanspruchen kann, weil eine solche Gerechtigkeit keine wäre.
Stattdessen hören wir im Epheserbrief:
„Lasst einen neuen Geist euer Denken bestimmen, und zieht an den neuen Menschen, der nach dem Willen Gottes geschaffen ist: in Gerechtigkeit und wahrer Heiligkeit.“ (Eph 4,23-24)
Unsere Zukunft als Weltgemeinschaft Ref. Kirchen wird also von der Suche nach Recht und dem Eintreten für Gerechtigkeit geprägt sein, weil das eine nicht ohne das andere zu haben ist.
Zum Leben in Einheit gehört der Einsatz für Gerechtigkeit und in einem solchen Handeln wird sich Heiligkeit erweisen.
Ich halte in diesem Zusammenhang einen Begriff aus der Sozialwissenschaft für sehr hilfreich „iustitia connectiva“ (Jan Assmann):
„Verbindende Gerechtigkeit“ meint ein Handeln, das auf Beziehung angelegt ist; ein Rechtsverständnis und Rechtsverhalten, das auf die Kommunikation und den Zusammenhalt von Menschen untereinander abzielt und das ebenso auf die lebendige Beziehung von Mensch und Gott ausgerichtet ist. Die Rechtsbasis dabei besteht in Bindung und Verbindlichkeit:
„Konnektive Gerechtigkeit stiftet einen Raum der Erinnerung, in dem heute gilt, was gestern galt, und morgen gelten soll, was heute gilt. In diesem Raum gilt vor allem anderen das Gesetz: Du sollst nicht vergessen, woran du dich gebunden hast.“ (Assmann, Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 1990)
Füreinander handeln, füreinander da sein, miteinander leben – das findet in der „iustitia connectiva“ seinen angemessenen Ausdruck und auf diese Weise wird die Gesellschaft zusammengehalten.
Deshalb wird auch die Sorge bzw. die Fürsorge für die am meisten Gefährdeten und die Marginalisierten zum entscheidenden Kriterium von Gerechtigkeit.
Anders wir: Wir leben in einer unglaublich schnellen Welt und vergessen schnell, was gestern war und gestern galt. Was wir für unsere Freiheit halten – oder was uns als solche suggeriert wird - ist oft genug schlicht verantwortungsloses Handeln. Unser Wirtschaften ist auf schnellen Profit ausgerichtet und unsere Politik auf kurzfristige Erfolge,
unser Umgang mit der Schöpfung ist ausbeuterisch und orientiert sich an dem, was uns heute dient und nützt, ohne an die Folgen zu denken,
ohne die Welt derer, die nach uns kommen, im Blick zu haben.
Und wir vergessen, dass wir zusammengehören; viele Menschen haben verlernt, dass es neben dem Ich ein Du und ein Wir gibt und dass wir nur gemeinsam Zukunft haben.
„Verbindende Gerechtigkeit“ beschreibt ein inklusives und verlässliches Gesellschaftssystem; unsere gegenwärtige Welt ist dagegen von Exklusivität und Unsicherheit geprägt:
Nicht nur ganze Bevölkerungsgruppen- und schichten, sondern ein großer Teil der Menschheit wird ausgeschlossen von dem, was ihm an Minimum von Lebensgrundlagen zusteht: Nahrung, Bildung, Teilhabe.
Gerade deshalb ist von uns, der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen, anderes zu erwarten: Als von Gott gerecht gemachte und also gerechtfertigte Menschen sind wir nicht nur aufgefordert zum Recht-Tun, sondern in besonderer Weise dazu befähigt!
Ich möchte uns deshalb zum Schluss einen Satz aus den Seligpreisungen ins Stammbuch schreiben:
„Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.“ (Mt 5,6)
Ich höre dies in einem doppelten Sinne:
Zuerst als die Verheißung von Gottes Schutz, Rettung und Segen für die, die sich heute an so vielen Orten der Welt nach Recht und Gerechtigkeit sehnen, weil ihnen genau dieses vorenthalten oder verweigert wird, dort, wo sie leben, in ihren wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Bezügen.
Zum anderen aber höre diese Aufforderung als Jesu Appell an uns alle, uns als Kirche dafür einzusetzen, dass Menschen Recht widerfährt und dieser Erde Gerechtigkeit, und zwar so, als wäre uns ein solches Engagement, das oft genug auch ein Kampf ist, ein geradezu körperliches Bedürfnis, wie wenn man Hunger hat und Durst. „Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.“
Ich glaube daran, dass einem solchen Verlangen, für Gerechtigkeit zu streiten und einzustehen, Seligkeit verheißen ist und dass wir schließlich auch dadurch, dass wir es tun, satt werden an Leib und Seele.
Lassen Sie mich zusammenfassen:
Einheit ist das Geschenk und die Verheißung Jesu Christi.
Als solche ist Einheit gelebte Gemeinschaft, inklusiv und solidarisch.
Einheit ist nicht ohne Gerechtigkeit zu haben.
Sie ist nicht die Einheit des Imperiums oder des Weltmarktes,
sie ist die Einheit des verbindlichen Miteinanders,
das den einzelnen achtet und sich gleichzeitig an Vielfalt freuen kann.
Einheit in Gerechtigkeit bemisst sich am Umgang mit denjenigen ihrer Mitglieder, die am verletzlichsten sind.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Grand Rapids/USA
Sabine Dressler-Kromminga