Von Freiheit und Ordnung – Eine Kartographie der Artikel der Emder Synode


Abschrift der Emder Akten in einem Folioband des Kölner Stadtarchivs; © Köln_Best._295_H_238 Geistliche Abt., Seite 40

Von Matthias Freudenberg

Die Akten der Emder Synode sind ein Vorbild dafür, dass Regeln und Ordnungen, die der Kirche eine Struktur geben, auf theologischen Einsichten beruhen sollten. Nur mit einer gut durchdachten Lehre von der Kirche lässt sich eine tragfähige Ordnung entfalten, die dem Aufbau der Kirche Jesu Christi dient und den theologischen Einsichten Ausdruck verleiht. 

Zur Synode eingeladen 
Das Einladungsschreiben zur Synode wirbt darum, Abgeordnete zur Synode zu entsenden. Erinnert wird an die alttestamentlichen Propheten, die zur gemeinsamen Gottesverehrung aufgerufen und um gegenseitige Unterstützung gebeten haben. Auf der Synode sollen die Abgeordneten im Sinne der Propheten gemeinsam beraten und zum Wohl der Gemeinden Beschlüsse fassen. Zugleich versichern die Unterzeichner des Schreibens, dass sie aus der brennenden Leidenschaft für die Gemeinden und nicht aus Machtinteressen heraus die Einladung aussprechen. 

Es folgen Hinweise auf das Neue Testament, um die Bedeutung von Synoden zu bekräftigen: Sie bieten die Chance, dass die Anwesenden einander ihre Geistesgaben mitteilen und zum gegenseitigen Nutzen zusammenwirken (vgl. 1. Kor 12,1–11). Kirche lebt von Partizipation, von gegenseitiger Beratung und von Entscheidungen, die das Wohl der Gemeinden zum Gestaltungsprinzip machen. Und Kirche ist Gemeinde Jesu Christi, die sich von ihren Gliedern her aufbaut. In ihr stehen das Ringen um Gemeinsamkeit, einmütige Entscheidungen und die Kraft des Arguments im Zentrum. Ausgeschlossen ist eine angemaßte, autoritäre oder durch Weihe verliehene Macht. 

Was geordnet werden muss 
Die Akten der Synode gliedern sich in fünf Abschnitte. An der Spitze stehen 53 Artikel von grundlegendem Charakter, in denen diese Themen angesprochen werden: Zuordnung und Funktion der Gremien, Pastoren-, Ältesten- und Diakonenwahl, Taufe und Abendmahl, Ehe, Kirchenzucht, Besetzung von Pfarrstellen, Ausbildung der Pastoren, Sammlung und Aufbau von Gemeinden sowie der Umgang mit den Geflüchteten. Es folgen 25 Artikel mit Antworten zu einzelnen Anfragen aus den Gemeinden. Daran schließen sich die Beschreibungen der Gremien an, die neu eingerichtet wurden, nämlich 9 Artikel zu den Versammlungen der Classes, 16 Artikel zu den Provinzsynoden und ein Artikel zur Generalsynode. Wer die 104 Artikel liest, stellt fest, dass kein Beschluss ausdrücklich durch ein biblisches Zitat begründet wird. Offenbar müssen Aussagen nur dann biblisch belegt werden, wenn es sich um entscheidende Glaubens- und Gewissensfragen handelt. Bei Ordnungsfragen kann das entfallen. Daraus sollte man aber nicht schließen, dass die Artikel ohne biblischen Hintergrund formuliert sind. Sowohl die Beschreibung der Gremien als auch die Einzelbestimmungen zur kirchlichen Praxis sowie der gesamte Horizont der Artikel verdanken sich der Einsicht: Die Gemeinde Jesu Christi ist eine durch Gottes Geist begabte Gemeinde, die sich aus ihren Gliedern zusammensetzt und in der die Ehre Gottes und das Menschenwohl im Mittelpunkt stehen. Die paulinische Beschreibung der Kirche als Gemeinschaft der durch Gottes Geist Begabten bildet die Grundierung der Akten. 

Aufbau des 1. Teils der Akten der Emder Synode (Generalia):
 
Artikel 1–9: Keine Herrschaft / Bekenntnisse und Katechismen / Zuordnung von Konsistorium, Versammlung der Classis, Provinzsynode und Generalsynode 
Artikel 10–18: Classes der Gemeinden / Pastoren-, Ältesten- und Diakonenwahl
Artikel 19–21: Taufe und Abendmahl
Artikel 22–24: Ehe 
Artikel 25–34: Kirchenzucht
Artikel 35–52: Besetzung von Pfarrstellen / Ausbildung der Pastoren / Sammlung und Aufbau von Gemeinden / Aufnahme von Geflüchteten / Martyriumsgeschichte
Artikel 53: Schluss

Freiheit in der Ordnung 
An mehreren Stellen ist ausdrücklich von Freiheit die Rede. Das überrascht auf den ersten Blick. Denn es wäre zu erwarten, dass eine solche Ordnung der Verpflichtung und Verbindlichkeit das Wort redet. Was ja durchaus geschieht. Aber das ist verbunden mit der Freigabe einiger Entscheidungen ins Ermessen der Gemeinden. Ihnen wird freigestellt, die Amtszeiten der Ältesten und Diakone nach Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit festzulegen. Bei der Gestaltung der Gottesdienste haben die Gemeinden die Freiheit, nach den vor Ort geltenden Gebräuchen zu verfahren. Ob während des Abendmahls Psalmen gesungen oder Bibeltexte verlesen werden, wird von der Synode nicht reglementiert. Die Konsistorien (Gemeindeleitungen) sind frei in der Wahl von Zeit und Ort ihrer Sitzungen. Ebenfalls sind die Gemeinden frei darin, Paten bei der Taufe vorzuschreiben oder darauf zu verzichten. Selbst bei der Wahl des Katechismus sind die Gemeinden insofern frei, dass sie auch einen anderen als die empfohlenen benutzen können. 

Auf diese Weise unterstreicht die Synode: Wir wollen den Gemeinden eine größtmögliche Freiheit lassen, ihre eigenen Belange selber zu regeln. Im Rahmen klarer Beschlüsse zu Grundsatzfragen sind die Artikel von Flexibilität und Dynamik geprägt. Sie bilden eine Ordnung der Freiheit. Es werden wandlungsfähige Strukturen beschrieben, die mit Leben gefüllt werden müssen. Dass die Ordnung dem kirchlichen Leben dienen soll und nicht umgekehrt die kirchliche Praxis der Ordnung, ist eine Grundüberzeugung der Synodalen von Emden. 

Gegenseitiges Einvernehmen 
Die im Einladungsschreiben anklingende Dringlichkeit, in gegenseitigem Einvernehmen zu beraten und zu Beschlüssen zu gelangen, prägt die Artikel. Dazu einige Beispiele: Gemeinsam urteilen die Kollegen über die Predigt der Pastoren bei den Versammlungen der Classes. Deren Präses wird gemeinsam gewählt. Einmütig werden die Artikel von der Synode beraten und beschlossen. Schon aufgrund der prekären Situation der Gemeinden liegt es auf der Hand, dass nur ein hohes Maß an Gemeinsamkeit und Einmütigkeit dazu beitragen kann, ihren Bestand zu sichern. Angesichts des Drucks von außen und der Existenz in der Diaspora waren Eintracht, Verlässlichkeit und Loyalität ein unverzichtbares Überlebensprinzip. Mutwillig herbeigeführter Streit bringt die Gefahr der Spaltung und Zersplitterung mit sich. Stattdessen geht es um die Einheit des gemeinsamen kirchlichen Auftrags in den verschiedenen Ämtern und auf den unterschiedlichen Verantwortungsebenen. 

Kontextualität und Pragmatismus 
Die Artikel zeichnen sich dadurch aus, dass sie die synodalen Institutionen von den Gemeinden aus entwickeln und überregionale Strukturen einrichten. Im Interesse der Gemeinden werden Entscheidungen zur Ausbildung von Pastoren, ihrer Berufung und zu den Aufgaben von Classis, Provinzsynode und Generalsynode getroffen. Das Denken von den Gemeinden her gibt den Artikeln die Farben der Kontextualität und des Pragmatismus: Kontextualität darin, dass die Notsituation der Gemeinden in der Verfolgung und im Exil angesprochen wird; Pragmatismus darin, dass die Artikel lösungsorientiert an der praktischen Verwirklichung des kirchlichen Lebens in den Gemeinden interessiert sind. Auch dazu einige Beispiele: Der Konkurrenz unter den Pastoren und der Gefahr, dass ein Pastor nicht schriftgemäß predigt, soll dadurch begegnet werden, dass sie in anderen Gemeinden nur mit deren Erlaubnis predigen dürfen. Bei Entscheidungen zu besonderen Vorfällen befasst sich die Synode mit Konfliktsituationen in der alltäglichen kirchlichen Praxis. Dazu zählt die Wiederheirat bei einem nicht dokumentierten Tod des früheren Partners oder der Wunsch nach Ehe mit einem schwerer Sünden bezichtigten Partner. Die Entscheidungen sind nicht von Restriktion, sondern von pragmatischem Freiheitsverständnis und Vergebungsbereitschaft geleitet. Ein solcher Pragmatismus, gepaart mit gegenseitiger Solidarität der Gemeinden, ist auch bei der sensiblen Frage erforderlich, wie man mit Durchreisenden umgehen soll. Gewiss verlangt die Nächstenliebe, diese nach Kräften zu unterstützen. Doch die Hilfe muss in einen Ausgleich gebracht werden mit der Gefahr, über Gebühr belastet oder gar ausgenutzt zu werden. Die Lösung dieser Frage geht einer Moralisierung oder Emotionalisierung aus dem Weg. Stattdessen empfiehlt sie ein geordnetes diakonisches Vorgehen, um Hilfe zu organisieren. 

Transparenz und Verbindlichkeit 
Die Synode legt großen Wert auf Transparenz und Verbindlichkeit. Das gilt erstens für die Weitergabe der synodalen Entscheidungen, um sie an die nicht anwesenden Synodalen und ihre Gemeinden zu kommunizieren. Zweitens sind Transparenz und Verbindlichkeit in der Zusammenarbeit zwischen den synodalen Gremien erforderlich. Drittens pocht die Synode darauf, dass auch das Leben in den einzelnen Gemeinden von Transparenz gekennzeichnet ist. Ein Beispiel dafür sind die Abläufe bei der Kirchenzucht und Mitteilung an die Gemeinde über einen Ausschluss. Transparenz und Verbindlichkeit sind ein Grundprinzip der reformatorischen Kirche. Alle Gläubigen sind gemeinsam Leib Christi. Sie teilen nicht nur die Grundlagen ihres Glaubens, sondern setzen sich gegenseitig über die Ordnung und den Aufbau der Kirche ins Bild. Kirche lebt vom offenen und kommunizierten Wort. 

Keine Hierarchien 
In den Artikeln fällt ihr antihierarchischer Charakter ins Auge. In der Kirche gibt es kein Oben und kein Unten, sondern alle Gemeinden und Amtsträger wirken zusammen, statt sich gegenseitig zu dominieren. In den Gemeinden nehmen die Konsistorien bzw. Presbyterien und übergemeindlich die Versammlungen der Classes bzw. Synoden die Leitungsfunktionen wahr. Leitungsämter sind Ämter auf Zeit und verstehen sich als Dienste innerhalb des gemeinsamen kirchlichen Auftrags. Dazu gehört auch die Frage, wie Pastoren ausgebildet und gewählt werden. Zu diesem Zweck legt die Synode ein Verfahren fest. Arme Gemeinden sollen mit benachbarten Gemeinden eine Verbindung eingehen und sich einen Pastor teilen. Wenn kein Pastor zur Verfügung steht, sollen die Gemeinden durch Lektoren, Älteste und Diakone beim Gemeindeaufbau unterstützt werden. Ausführlich wird die Kirchenzucht erörtert und ein Vorgehen beschrieben, das sowohl der Besserung des Individuums als auch der Integrität der Gemeinde dienen soll. Dem sich Verfehlenden wird die Möglichkeit geboten, umzudenken und zu einem besseren Leben zu gelangen. 

Orientierung und konfessionelle Einheit 
Eine Kirche wie die niederländische Kirche im Exil und »unter dem Kreuz« brauchte theologische Orientierung und konfessionelle Einheit. Deshalb hat die Synode sich zur Bekenntnisgrundlage der Kirche geäußert. Um die Übereinstimmung in der Lehre zu dokumentieren, erfolgt die Bindung an das Niederländische Bekenntnis von 1561. Zusätzlich wird auch das Hugenottische Bekenntnis von 1559 unterschrieben, um die Verbundenheit mit den verfolgten Geschwistern in Frankreich zum Ausdruck zu bringen. Das war damals ein bemerkenswerter ökumenischer Akzent. 

Partizipation 
Die Artikel gehen von einer Kirche aus, in der es sowohl Repräsentanz als auch persönliche Verantwortung ihrer Mitglieder gibt: Repräsentanz darin, dass eine Delegation in Gremien, beginnend beim Konsistorium, erfolgt; persönliche Verantwortung darin, dass die Mitglieder der Gemeinde am Gemeindeaufbau beteiligt sind. Die ganze Gemeinde kann als begabte Gemeinde angesprochen werden, die von Partizipation, Teilhabe und Mitverantwortung lebt. Da ihre Mitglieder über unterschiedliche Geistesgaben verfügen, legen die Artikel das Augenmerk auf deren differenzierte Mitwirkung. Sie sind nicht Empfänger von kirchlichen Dienstleistungen, sondern verstehen sich als Subjekte, die am kirchlichen Leben und ihren Gremien beteiligt sind. 

Ökumenisches Netzwerk 
Schließlich galt es, die Anliegen der Gemeinden vor Ort mit dem ökumenischen Charakter der Kirche in Einklang zu bringen. Auf der einen Seite werden die Zuständigkeiten der Gemeinden hervorgehoben und ihnen ein hohes Maß an Entscheidungskompetenz zugewiesen. Auf der anderen Seite werden der Zusammenhalt der Gemeinden auf der Ebene der Classes, Provinzen und der Gesamtkirche betont. In ihrer bedrohten Lage bilden die Gemeinden und Classes ein Netzwerk, wie Artikel 43 betont: »Sehr nützlich ist eine Verbindung der Gemeinden untereinander in der Art, dass sie sich durch häufigen Briefwechsel über das austauschen, was in den Gemeinden allgemein und in einigen auch im Besonderen zur Förderung ihres Bestandes und Wachstums beiträgt.« Kommunikation und Solidarität sind die Säulen, auf denen der Zusammenhalt der Gemeinden ruht. 

Kirchliche Innovation 
Die Artikel der Emder Synode sind innovativ. Gremien werden etabliert, die der Repräsentanz und Verbindung der Gemeinden dienen. Über ihre Zeit hinaus bieten die Artikel wichtige Hinweise für das Leben einer Kirche der Zukunft, das von Partizipation und Verantwortungsübernahme geprägt ist. Sie zeigen Wege auf, wie die Gemeinden unter erschwerten äußeren Bedingungen lebens- und zukunftsfähig sind. Im Spannungsfeld von Flexibilität und Verbindlichkeit setzen sie einen Rahmen, um mit innerkirchlicher Pluralität und Interessenskollisionen kreativ und produktiv umzugehen. Wesentliche Momente sind die Besinnung auf gemeinsame Überzeugungen und theologische Orientierungen, Transparenz, partizipative Strukturen und ökumenischer Zusammenhalt.